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286
Nigerianische Opfer von Menschenhandel als Mitglieder einer sozialen Gruppe
LEITSATZ DES GERICHTS: I. Damit der Verfolgungsgrund "Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe" (Art 1 Abschnitt A Z 2 GFK) erfüllt ist, müssen die Mitglieder einer Gruppe zum einen ein gemeinsames identitätsstiftendes Merkmal oder einen gemeinsamen nicht (zumutbar) veränderlichen Hintergrund haben. Zum zweiten müssen sie hiedurch eine von der Mehrheitsgesellschaft im Herkunftsstaat deutlich abgegrenzte Identität erlangen. II. Bei Opfern von Menschenhandel aus Nigeria ist – ungeachtet der Umstände des Einzelfalles – davon auszugehen, dass diese beide Merkmale des Begriffs einer "sozialen Gruppe" erfüllen (I.). III. Der VwGH war in seinem Beschluss vom 14.8.2020, Ro 2020/14/0002, anders als der VfGH in dessen Erkenntnis vom 1.7.2022, E 309/2022, davon ausgegangen, dass nigerianische Frauen, die Opfer von Menschenhandel sind, in Nigeria nicht automatisch eine abgegrenzte Identität hätten, vielmehr komme es auf den Einzelfall an. Da der VfGH dies in seinem zitierten Erkenntnis anders gesehen hat und das BVwG Letzterem gefolgt ist, ist die Revision an den VwGH zulässig (Art 133 Abs 4 B-VG).
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287
Familieneinheit nach Sekundärmigration und Kindesgeburt in einem anderen Mitgliedstaat
LEITSATZ DES GERICHTS: I. Eine analoge Anwendung des Art 20 Abs 3 Dublin III-VO auf die Asylanträge Minderjähriger, deren Eltern in einem anderen Mitgliedstaat ein Schutzstatus zuerkannt worden und deren Antrag im nunmehrigen Mitgliedstaat schon vor der Antragstellung des Kindes als unzulässig zurückgewiesen worden war, scheidet aus. Stattdessen ist für die Anträge solcher Minderjähriger Art 9 Dublin III-VO einschlägig. Scheitert die Anwendung dieses Zuständigkeitstatbestands, ist gemäß Art 3 Abs 2 Dublin III-VO der erste Mitgliedstaat der Antragstellung zuständig. II. Eine analoge Anwendung des Unzulässigkeitstatbestands des Art 33 Abs 2 lit a RL 2013/32/EU auf Minderjährige in der geschilderten Situation (I.) kommt nicht in Betracht.
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288
Sanktionen gegen grob gewalttätige Asylwerber; Bekräftigung des "Haqbin-Urteils"
LEITSATZ DES GERICHTS: I. Der zweite Tatbestand des Art 20 Abs 4 RL 2013/33/EU ("grob gewalttätiges Verhalten") ist dahin auszulegen, dass er auch tatbildliche Handlungen von Asylwerbern außerhalb von Unterbringungszentren erfasst. II. Wie bereits im Urteil EuGH 12.11.2019, Rs C-233/18 (Haqbin), ECLI:EU:C:2019:956, judiziert, ist ein Totalentzug von im Rahmen der Aufnahme gewährten materiellen Leistungen (Grundversorgungsleistungen) iSd Art 2 lit f und g RL 2013/33/EU niemals zulässig (wegen Unvereinbarkeit mit dem Gebot der Bereitstellung eines würdigen Lebensstandards iSd Art 20 Abs 5 Satz 3 leg cit sowie dem in Satz 2 leg cit statuierten Verhältnismäßigkeitsgrundsatz). III. Art 20 Abs 4 und 5 RL 2013/33/EU hindern nicht an der Inhaftnahme von Asylwerbern gemäß Art 8 Abs 3 lit e RL 2013/33/EU, sofern die Voraussetzungen der Art 8–11 leg cit erfüllt sind. IV. Die absolute Unzulässigkeit eines Totalentzugs von im Rahmen der Aufnahme gewährten materiellen Leistungen (Grundversorgungsleistungen) vermag auch nicht durch Verfahrensgarantien im Recht der Mitgliedstaaten relativiert zu werden.
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289
Rechtsschutzdefizite in der Dublin III-VO?
LEITSATZ DES GERICHTS: I. Art 27 Abs 1 Dublin III-VO ist nicht dahingehend auszulegen, dass er nur gegen Überstellungsentscheidungen einen Rechtsbehelf garantiere. Vielmehr steht gegen jede Entscheidung im Rahmen des Dublinsystems, mit der in subjektive Rechte eingegriffen wird, gerichtlicher Rechtsschutz zur Verfügung. II. Wird ein Aufnahmegesuch gemäß Art 21 Dublin III-VO, in dem das Zuständigkeitskriterium des Art 8 Abs 2 leg cit in Rede steht, vom ersuchten Mitgliedstaat abgewiesen, so muss dieser dem unbegleiteten minderjährigen Asylwerber einen gerichtsförmlichen Rechtsbehelf gegen diese Entscheidung zur Verfügung stellen. III. Kein wie auch immer geartetes subjektives Recht erfließt im Rahmen von Entscheidungen iSd Art 8 Abs 2 Dublin III-VO dem Verwandten, dessentwegen dieser gerichtlichen Rechtsschutz iSd "unionsrechtsakzessorischen" Art 47 GRC in Anspruch nehmen könnte.
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290
"Minderjährigkeit" und "tatsächliche familiäre Bindungen" iSd RL 2003/86/EG (FamilienzusammenführungsRL)
LEITSATZ DES GERICHTS: I. Art 16 Abs 1 lit a iVm Art 2 lit f RL 2003/86/EG ist dahin auszulegen, dass ein "unbegleiteter Minderjähriger" zum Zeitpunkt, in dem ein Antrag auf Einreisetitel zum Behufe der Familienzusammenführung mit ihm gestellt wird, unter 18 Jahre alt sein muss. Es ist jedoch unions(grund)rechtlich unzulässig, zu verlangen, dass die Minderjährigkeit auch im Entscheidungszeitpunkt der/des mitgliedstaatlichen Behörde/Gerichts noch fortbestehen müsse. II. Es steht mit der RL 2003/86/EG, insb mit deren Art 13 Abs 2 iVm Abs 1 nicht im Einklang, das Ende der Minderjährigkeit im nationalen Recht zur auflösenden Bedingung zu erheben, mit deren Eintritt ein aus der Familienzusammenführung erfließender Aufenthaltstitel Angehöriger wegfiele. III. Für die Gewährung/das Fortbestehen von Einreise- und Aufenthaltstiteln aus dem Titel der Familienzusammenführung muss ein tatsächliches Familienleben bestehen, die bloße Verwandtschaft reicht nicht aus (Art 16 Abs 1 lit b RL 2003/86/EG): Tatbildliche "tatsächliche familiäre Bindungen" äußern sich insb in einem regelmäßigen Kontakt. Wechselseitige finanzielle Unterstützungen zwischen dem Zusammenführenden und dessen Angehörigen dürfen aber nicht verlangt werden.
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