Leitsätze
2637
Unglaubwürdigkeit der Fluchtgründe wegen mangelnder Stringenz des Fluchtvorbringens
Leitsätze
I. Werden die Fluchtgründe in den einzelnen Einvernahmen bzw in der mündlichen Verhandlung vor dem BVwG abgeändert, so zeigt sich, dass die fremde Person keine gleichbleibenden Schilderungen tätigt. Dies lässt die Schlussfolgerung zu, dass die behaupteten Gründe nicht der Wahrheit entsprechen. Ist aufgrund dürftiger Schilderungen ein mehrmaliges Nachfragen erforderlich und sind die Angaben der fremden Person dennoch nicht konkreter, so spricht auch dies gegen die Glaubwürdigkeit des Vorbringens. II. Um von einem Überwiegen der privaten Interessen der fremden Person an einem Verbleib im österreichischen Bundesgebiet gegenüber den öffentlichen Interessen an einer Rückkehr der fremden Person in deren Herkunftsstaat ausgehen zu können, haben entscheidungserhebliche integrative Anknüpfungspunkte in Österreich vorzuliegen. Keine integrativen Schritte liegen beispielsweise vor, wenn die fremde Person seit mehr als vier Jahren Leistungen aus der Grundversorgung bezieht, keine Deutschkenntnisse aufweisen und auch sonst keine Verfestigung oder Eingliederung in die österreichische Gesellschaft vorweisen kann.
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Entscheidungsdatum: 04.08.2022
Aufbereitet am: 06.12.2022
2636
Zur Ausstellung eines Fremdenpasses
Leitsätze
Eine subsidiär schutzberechtigte Person ist dann nicht in der Lage, sich ein Reisedokument ihres Herkunftsstaats zu beschaffen, wenn dessen Vertretungsbehörde die Ausstellung verweigert. Damit die Abweisung eines Antrags auf Ausstellung eines Fremdenpasses grundsätzlich zu Recht erfolgen kann, muss für die antragstellende Person die konkrete Möglichkeit bestehen, sich Reisedokumente ihres Heimatstaats zu beschaffen. Eine bloß abstrakte Möglichkeit, dass die Vertretungsbehörde grundsätzlich willens ist, für die betroffene Person ein Reisedokument auszustellen, ist nicht ausreichend.
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Entscheidungsdatum: 08.02.2022
Aufbereitet am: 05.12.2022
2635
Von Unionsbürgern abgeleitete Aufenthaltsrechte unmittelbar kraft Art 20 AEUV
Leitsätze
I. Für drittstaatsangehörige Familienangehörige von Unionsbürgern kann sich – wenn nicht schon aus anderen Rechtsgrundlagen – subsidiär aus Art 20 AEUV und damit dem Status des Unionsbürgers ein abgeleitetes Aufenthaltsrecht ergeben. II. Die Mitgliedstaaten dürfen Drittstaatsangehörigen von Unionsbürgern abgeleitete Aufenthaltsrechte nicht alleine auf Grund fehlender Existenzmittel verweigern. Vielmehr haben sie gemäß Art 20 AEUV zu prüfen, ob zwischen Unionsbürgern und Drittstaatsangehörigen ein derart starkes faktisches Abhängigkeitsverhältnis besteht, dessentwegen der Unionsbürger bei Ausweisung des Drittstaatsangehörigen faktisch gezwungen wäre, mitzugehen. Bei zusätzlich gegebener Straffälligkeit des Drittstaatsangehörigen ist eine umfassende Interessenabwägung im Lichte des allgemeinen Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes und der Grundrechte, allenfalls auch des Kindeswohlgrundsatzes vorzunehmen. III. Zwischen Ehegatten besteht ein Abhängigkeitsverhältnis iSd Art 20 AEUV (siehe oben II.) nicht schon wegen der zivilrechtlichen Verpflichtung zum Zusammenleben (vgl für Österreich § 90 Abs 1 ABGB). IV. Auch ein drittstaatsangehöriges minderjähriges Kind eines ebenso drittstaatsangehörigen Familienangehörigen eines Unionsbürgers kann mitunter ein abgeleitetes Aufenthaltsrecht erwerben, wenn dessen Nichtgewährung auf Grund eines bestehenden Abhängigkeitsverhältnisses iSd Art 20 AEUV (siehe oben II.) zu einem faktischen Zwang des drittstaatsangehörigen Elternteils führte, das Unionsgebiet zu verlassen und dies wiederum dazu führte, dass auch der Unionsbürger faktisch zu diesem Schritt gezwungen wäre.
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Entscheidungsdatum: 05.05.2022
Aufbereitet am: 02.12.2022
2634
Rückkehrentscheidung aufgrund Gefährdung öffentlicher Interessen trotz langer (etwa 30 Jahre) rechtmäßiger Aufenthaltsdauer
Leitsätze
I. Eine besonders gravierende bzw schwere Straffälligkeit liegt beispielsweise aufgrund der Begehung eines schweren Raubes und einer Freiheitsentziehung, welche zu einer unbedingten elfjährigen Freiheitsstrafe führten, vor. Aufgrund einer derartig massiven Straffälligkeit kann jedenfalls von einer Gefährdung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit durch die fremde Person ausgegangen werden, weswegen der (weitere) Aufenthalt der fremden Person den öffentlichen Interessen widerstreitet. II. War die fremde Person langjährig rechtmäßig in Österreich niedergelassen und spricht sie Deutsch auf muttersprachlichem Niveau, so hat die Interessenabwägung – trotz einer von der fremden Person ausgehenden Gefährdung – regelmäßig zu ihren Gunsten auszugehen und eine aufenthaltsbeendende Maßnahme darf in einer derartigen Konstellation grundsätzlich nicht erlassen werden. III. Trotz eines Einreiseverbots kann die fremde Person ihre Bindungen zu in Österreich lebenden Familienangehörigen durch briefliche, telefonische oder elektronische Kontakte aufrechterhalten. Befindet sich die fremde Person in den nächsten Jahren in Strafhaft, so muss sich der Kontakt ohnehin im Wesentlichen auf diese Kommunikationsformen beschränken. Dadurch wird das Gewicht des Privat- und Familienlebens in einem gewissen Maß relativiert. IV. Je ausdrücklicher sich die Gefährlichkeit der fremden Person manifestiert, desto länger ist ihr Wohlverhaltenszeitraum anzusetzen. Befindet sich die fremde Person jedoch in Haft, so liegt klarerweise noch kein Wohlverhaltenszeitraum vor, weshalb nicht auf einen Gesinnungswandel und eine positive Zukunftsprognose geschlossen werden kann.
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Entscheidungsdatum: 05.07.2022
Aufbereitet am: 01.12.2022
2633
Jedenfalls umfassender Versicherungsschutz bei freiwilliger Selbstversicherung in der gesetzlichen Krankenversicherung
Leitsätze
I. Erfolgt eine freiwillige Selbstversicherung in der gesetzlichen Krankenversicherung gemäß § 16 Abs 2 ASVG, so ist betreffend eine allfällig private Krankenversicherung nicht mehr zu prüfen, ob die Leistungen jener der gesetzlichen Krankenversicherung in Österreich entsprechen. II. Bei einer freiwilligen Selbstversicherung in der gesetzlichen Krankenversicherung ist von einem ausreichenden Versicherungsschutz für ein drei Monate übersteigendes unionsrechtliches Aufenthaltsrecht auszugehen.
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Entscheidungsdatum: 10.02.2022
Aufbereitet am: 30.11.2022
2632
Versorgungslage für Schutzberechtigte in Griechenland
Leitsätze
Ein in Griechenland als Schutzberechtigter anerkannter syrischer Staatsangehöriger wird durch die Zurückweisung eines Antrags auf internationalen Schutz mangels hinreichender Auseinandersetzung mit der allgemeinen Rückkehrsituation im Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander verletzt.
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Entscheidungsdatum: 29.04.2022
Aufbereitet am: 29.11.2022
2631
Refoulementverbotswidrigkeit der Rückführung einer Mehrkindfamilie in den Irak
Leitsätze
Auch wenn ein Familienvater vor der – sieben Jahre zurückliegenden – Ausreise alleine für die Mehrkindfamilie sorgen konnte, darf nicht davon ausgegangen werden, er könne dies auch nach Jahren des Aufenthalts im österreichischen Bundesgebiet. Wenn weitere Rückkehrprobleme für Familienmitglieder im Herkunftsstaat bis zum Grad der existenziellen Bedrohung hinzutreten und auch keine zumutbare innerstaatliche Fluchtalternative (§ 11 AsylG) vorliegt, ist allen Mitgliedern solcherart betroffener Familien subsidiärer Schutz iSd § 8 Abs 1 Z 1 AsylG zuzuerkennen.
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Entscheidungsdatum: 02.06.2022
Aufbereitet am: 28.11.2022
2630
Rückführungsentscheidung der Schweiz als absoluter Versagungsgrund
Leitsätze
I. Nach § 11 Abs 1 Z 2 NAG kommt es für die Annahme dieses Versagungsgrundes allein auf das Bestehen einer Rückführungsentscheidung eines anderen EWR-Staates oder der Schweiz (und nicht auf eine allfällige Ausschreibung im Schengener Informationssystem) an. II. Im Hinblick auf den Versagungsgrund des § 11 Abs 1 Z 2 NAG ist eine Gefährdungsprognose nicht vorzunehmen. III. Da es sich bei § 11 Abs 1 Z 2 NAG (grundsätzlich) um einen absoluten Versagungsgrund handelt, ist bei dessen Vorliegen eine Interessenabwägung nicht vorgesehen. IV. Der Wunsch nach einem gemeinsamen Familienleben begründet für sich genommen noch keine Ausnahmesituation iSv EuGH 15.11.2011, C-256/11, Dereci ua.
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Entscheidungsdatum: 05.07.2022
Aufbereitet am: 25.11.2022
2629
Zur Niederlassungsbewilligung nach § 43 Abs 3 NAG
Leitsätze
I. Anträge von Inhabern einer Aufenthaltsberechtigung nach § 55 Abs 2 AsylG auf Erteilung einer "Niederlassungsbewilligung" gemäß § 43 Abs 3 NAG sind als Erstanträge und nicht als Verlängerungsanträge iSv § 2 Abs 1 Z 11 NAG zu qualifizieren. II. Zwischen der "Niederlassungsbewilligung" nach § 43 Abs 3 NAG und den in dieser Bestimmung aufgezählten Aufenthaltstiteln gemäß § 55 bzw § 56 AsylG besteht insoweit ein untrennbarer Zusammenhang, als der in Rede stehende Aufenthaltstitel nach dem NAG nur in unmittelbarem Anschluss an die erwähnten Titel nach dem AsylG erteilt werden kann. Dass die Aufenthaltstitel nach § 41a Abs 9 Z 1 und 2 sowie § 43 Abs 3 NAG die "Weiterführung" eines vorangegangenen, auf § 55 bzw § 56 AsylG gegründeten Aufenthaltsrechts darstellen und die in Rede stehenden Titel nach dem NAG bei ihrer erstmaligen Erteilung daher nur "im Anschluss" an einen Aufenthaltstitel nach § 55 bzw § 56 AsylG erlangt werden können, spiegelt sich auch in § 44a NAG wider. Demnach ist in Verfahren gemäß § 41a Abs 9 Z 1 und 2 sowie § 43 Abs 3 NAG ausdrücklich die sinngemäße Anwendung des § 24 Abs 1 und 2 sowie des § 20 Abs 2 NAG vorgesehen.
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Entscheidungsdatum: 21.06.2022
Aufbereitet am: 24.11.2022
2628
Sanktionen gegen grob gewalttätige Asylwerber; Bekräftigung des "Haqbin-Urteils"
Leitsätze
I. Der zweite Tatbestand des Art 20 Abs 4 RL 2013/33/EU ("grob gewalttätiges Verhalten") ist dahin auszulegen, dass er auch tatbildliche Handlungen von Asylwerbern außerhalb von Unterbringungszentren erfasst. II. Wie bereits im Urteil EuGH 12.11.2019, Rs C-233/18 (Haqbin), ECLI:EU:C:2019:956, judiziert, ist ein Totalentzug von im Rahmen der Aufnahme gewährten materiellen Leistungen (Grundversorgungsleistungen) iSd Art 2 lit f und g RL 2013/33/EU niemals zulässig (wegen Unvereinbarkeit mit dem Gebot der Bereitstellung eines würdigen Lebensstandards iSd Art 20 Abs 5 Satz 3 leg cit sowie dem in Satz 2 leg cit statuierten Verhältnismäßigkeitsgrundsatz). III. Art 20 Abs 4 und 5 RL 2013/33/EU hindern nicht an der Inhaftnahme von Asylwerbern gemäß Art 8 Abs 3 lit e RL 2013/33/EU, sofern die Voraussetzungen der Art 8–11 leg cit erfüllt sind. IV. Die absolute Unzulässigkeit eines Totalentzugs von im Rahmen der Aufnahme gewährten materiellen Leistungen (Grundversorgungsleistungen) vermag auch nicht durch Verfahrensgarantien im Recht der Mitgliedstaaten relativiert zu werden.
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Entscheidungsdatum: 01.08.2022
Aufbereitet am: 23.11.2022
2627
Mangelhafte Ermittlungen zur medizinischen Versorgungslage, insb zur Verfügbarkeit von Medikamenten in Afghanistan
Leitsätze
Der Beschwerdeführer aus Afghanistan wird durch die Nichtzuerkennung des Status eines subsidiär Schutzberechtigten aufgrund der mangelnden Auseinandersetzung mit der Verfügbarkeit von Medikamenten für die Behandlung der Erkrankung sowie mit der Rückkehrsituation in die Region der innerstaatlichen Fluchtalternative im Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander verletzt.
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Entscheidungsdatum: 18.03.2022
Aufbereitet am: 22.11.2022
2626
Zur Unzulässigkeit eines Folgeantrags wegen res iudicata
Leitsätze
I. Bei der Frage, ob der Sachverhalt keine maßgebliche Änderung enthält, sodass sich ein Antrag aus dem Blickwinkel der entschiedenen Sache als unzulässig präsentiert, ist nicht allein auf den Inhalt des Vorbringens abzustellen. Vielmehr ist zu prüfen, ob dem Vorbringen ein "glaubhafter Kern", welchem Relevanz zukommt, innewohnt. II. Ein Antrag auf internationalen Schutz ist nicht weiter zu prüfen, wenn über einen inhaltsgleichen Antrag bereits entschieden wurde und keine neuen Elemente vorliegen oder die neuen Elemente ohnehin nicht geeignet sind, dass der antragstellenden Person mit erheblicher Wahrscheinlichkeit ein Schutzstatus zuerkannt wird.
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Entscheidungsdatum: 04.01.2022
Aufbereitet am: 21.11.2022
2625
Rechtsschutzdefizite in der Dublin III-VO?
Leitsätze
I. Art 27 Abs 1 Dublin III-VO ist nicht dahingehend auszulegen, dass er nur gegen Überstellungsentscheidungen einen Rechtsbehelf garantiere. Vielmehr steht gegen jede Entscheidung im Rahmen des Dublinsystems, mit der in subjektive Rechte eingegriffen wird, gerichtlicher Rechtsschutz zur Verfügung. II. Wird ein Aufnahmegesuch gemäß Art 21 Dublin III-VO, in dem das Zuständigkeitskriterium des Art 8 Abs 2 leg cit in Rede steht, vom ersuchten Mitgliedstaat abgewiesen, so muss dieser dem unbegleiteten minderjährigen Asylwerber einen gerichtsförmlichen Rechtsbehelf gegen diese Entscheidung zur Verfügung stellen. III. Kein wie auch immer geartetes subjektives Recht erfließt im Rahmen von Entscheidungen iSd Art 8 Abs 2 Dublin III-VO dem Verwandten, dessentwegen dieser gerichtlichen Rechtsschutz iSd "unionsrechtsakzessorischen" Art 47 GRC in Anspruch nehmen könnte.
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Entscheidungsdatum: 01.08.2022
Aufbereitet am: 18.11.2022
2624
Zu den Voraussetzungen des Selbsteintrittsrechts
Leitsätze
I. Sind die Aufnahmekapazitäten für Asylwerber in einem Mitgliedstaat knapp und kommt es etwa daher teilweise zu Problemen bei der lückenlosen materiellen Versorgung von Asylwerbern, so kann aufgrund dieser Umstände nicht auf das Vorliegen genereller systemischer Mängel geschlossen werden. II. Wird über eine fremde Person aufgrund der Covid-19-Pandemie eine mehrtägige Quarantäne, während dieser sie behördlich untergebracht und auch entsprechend versorgt wird, verhängt, so kann darin keine unmenschliche Behandlung erblickt werden. III. Überstellungen im Rahmen der Dublin-III-VO sind im Lichte des Art 4 GRC bzw Art 3 EMRK bloß im Falle einer "extremen materiellen Not", die bei der zu überstellenden Person unabhängig von deren Willen und persönlichen Entscheidungen einträte, unzulässig. Nur wenn im Aufnahmestaat objektive Kriterien (systemische oder allgemeine Mängel) vorliegen und dazu kumulativ die ernsthafte Gefahr besteht, dass die betroffene Person einer solchen Gefahr auch subjektiv ausgesetzt wird, liegen jene außergewöhnlichen Umstände vor, die eine Einschränkung der Grundsätze des gegenseitigen Vertrauens und der Anerkennung zwischen den Mitgliedstaaten rechtfertigen können. IV. Eine asylsuchende Person kann sich im Zuge der Feststellung des für das Asylverfahren zuständigen Dublinstaats nicht jenen Mitgliedstaat aussuchen, in welchem sie die bestmögliche Unterbringung und Versorgung erwarten kann. Es ist dabei irrelevant, dass bloß deshalb in einem anderen Mitgliedstaat kein Asylantrag gestellt wurde, weil von Anfang an der Wunsch bestand, nach Österreich zu kommen.
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Entscheidungsdatum: 07.04.2022
Aufbereitet am: 17.11.2022
2623
"Quasi res iudicata" in Verfahren zur Erlangung von Aufenthaltstiteln nach den §§ 54 ff AsylG
Leitsätze
I. Hinsichtlich der Frage, ob in Verfahren zur Erteilung von Aufenthaltstiteln iSd §§ 55–57 AsylG ein seit der letzten fremdenbehördlichen Entscheidung maßgeblich geänderter Sachverhalt vorliegt (§ 58 Abs 10 AsylG), sind die Wertungen des § 68 Abs 1 AVG übertragungsfähig. II. Wird ein Antrag auf Erteilung von Aufenthaltstiteln iSd §§ 54 ff AsylG in Ermangelung eines maßgeblich geänderten Sachverhalts gemäß § 58 Abs 10 AsylG zurückgewiesen und diese Entscheidung mit Bescheidbeschwerde bekämpft, so ist das BVwG darauf beschränkt, die Rechtmäßigkeit der Zurückweisung zu prüfen. Es darf also einzig prüfen, ob ein maßgeblich geänderter Sachverhalt iSd § 58 Abs 10 AsylG vorliegt, nicht aber das Vorliegen der materiellen Erteilungsvoraussetzungen des jeweiligen Aufenthaltstitels.
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Entscheidungsdatum: 01.06.2022
Aufbereitet am: 16.11.2022
2622
Zum Zeitpunkt der Entscheidung über einen Asylantrag und der Erlassung einer Rückkehrentscheidung
Leitsätze
I. Da die Erlassung einer Rückkehrentscheidung vor der Entscheidung über einen Antrag auf internationalen Schutz unzulässig ist, muss ein anhängiges Rückkehrentscheidungsverfahren eingestellt und eine bereits vom BFA erlassene erstinstanzliche Rückkehrentscheidung im Rahmen des Beschwerdeverfahrens vom BVwG ersatzlos behoben werden. II. Möchte eine in Haft befindliche Person Asyl beantragen, so ist der Asylantrag vor einem Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes zu stellen. Dazu muss eine Vorführung beantragt werden.
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Entscheidungsdatum: 08.04.2022
Aufbereitet am: 15.11.2022
2621
Rückkehrentscheidung mit unionsrechtlichem Aufenthaltsrecht unvereinbar
Leitsätze
I. Der Erwerb eines unionsrechtlichen Aufenthaltsrechts steht der weiteren Existenz einer Rückkehrentscheidung, die an die Unrechtmäßigkeit des Aufenthaltes anknüpft, entgegen. Der Eintritt eines unionsrechtlichen Aufenthaltsrechts begründet nämlich eine rechtliche Position, mit der eine Rückkehrentscheidung nicht länger kompatibel ist. Auch der Erwerb eines unionsrechtlichen Aufenthaltsrechts muss daher - gleich den in § 60 Abs 3 FPG ausdrücklich genannten Fällen der Erlangung eines rechtmäßigen Aufenthaltes - eine Gegenstandslosigkeit herbeiführen. II. Zwar wird ein unionsrechtliches Aufenthaltsrecht durch eine Eheschließung mit einer EWR-Bürgerin nicht ohne Weiteres erlangt, sondern besteht insb dann nicht, wenn eine Gefährdung aus Gründen der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit vorliegt. Die Nichtbeachtung einer Rückkehrentscheidung begründet aber eine solche Gefährdung für sich genommen jedenfalls nicht. III. Ein Vorgehen nach § 55 Abs 6 NAG kommt dann in Betracht, wenn eine Aufenthaltsbeendigung erst nach Eheschließung und damit nach der Berufung auf ein unionsrechtliches Aufenthaltsrecht in Rechtskraft erwächst, nicht aber dann, wenn die Rechtskraft bereits vor der Eheschließung eingetreten ist.
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Entscheidungsdatum: 21.06.2022
Aufbereitet am: 14.11.2022
2620
"Minderjährigkeit" und "tatsächliche familiäre Bindungen" iSd RL 2003/86/EG (FamilienzusammenführungsRL)
Leitsätze
I. Art 16 Abs 1 lit a iVm Art 2 lit f RL 2003/86/EG ist dahin auszulegen, dass ein "unbegleiteter Minderjähriger" zum Zeitpunkt, in dem ein Antrag auf Einreisetitel zum Behufe der Familienzusammenführung mit ihm gestellt wird, unter 18 Jahre alt sein muss. Es ist jedoch unions(grund)rechtlich unzulässig, zu verlangen, dass die Minderjährigkeit auch im Entscheidungszeitpunkt der/des mitgliedstaatlichen Behörde/Gerichts noch fortbestehen müsse. II. Es steht mit der RL 2003/86/EG, insb mit deren Art 13 Abs 2 iVm Abs 1 nicht im Einklang, das Ende der Minderjährigkeit im nationalen Recht zur auflösenden Bedingung zu erheben, mit deren Eintritt ein aus der Familienzusammenführung erfließender Aufenthaltstitel Angehöriger wegfiele. III. Für die Gewährung/das Fortbestehen von Einreise- und Aufenthaltstiteln aus dem Titel der Familienzusammenführung muss ein tatsächliches Familienleben bestehen, die bloße Verwandtschaft reicht nicht aus (Art 16 Abs 1 lit b RL 2003/86/EG): Tatbildliche "tatsächliche familiäre Bindungen" äußern sich insb in einem regelmäßigen Kontakt. Wechselseitige finanzielle Unterstützungen zwischen dem Zusammenführenden und dessen Angehörigen dürfen aber nicht verlangt werden.
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Entscheidungsdatum: 01.08.2022
Aufbereitet am: 11.11.2022
2619
Schutz des Familienlebens im Botschaftsverfahren (§ 35 AsylG)
Leitsätze
I. Hinsichtlich der Frage, ob der Aufenthalt der asyl- oder subsidiär schutzberechtigten Bezugsperson von Antragstellern auf Visa zum Zwecke der Familienzusammenführung in Österreich eine "finanzielle Belastung" iSd § 11 Abs 5 NAG darstellt (§ 35 Abs 4 Z 3 iVm § 60 Abs 2 Z 3 AsylG), ist wegen des Neuerungsverbots im Beschwerdeverfahren (§ 11a Abs 2 FPG) alleine auf die Sachlage zum Zeitpunkt der Bescheiderlassung zu rekurrieren. II. Ein schützenswertes Familienleben iSd Art 8 EMRK, das gegenüber einem Visaerteilungshindernis des § 60 Abs 2 AsylG prävaliert (§ 35 Abs 4 Z 3 AsylG), ist insb beim Vorliegen der folgenden Tatsachen anzunehmen: regelmäßige Kontakte, persönliche Treffen in einem Drittland, räumliche Trennung alleine auf Grund der Flucht der Bezugsperson, kein Vorliegen außergewöhnlicher Umstände, die auf ein Zerreißen des Bandes zwischen Vater und Kind hindeuten. III. Befindet das BVwG, dass beantragte Visa iSd § 35 AsylG iVm § 26 FPG zu erteilen sind, so ist der entgegenstehende Bescheid der jeweiligen Botschaft weder zu reformieren noch iSd § 28 Abs 3 Satz 2 VwGVG zu kassieren, sondern gemäß § 28 Abs 2 VwGVG mit Erkenntnis ersatzlos zu beheben.
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Entscheidungsdatum: 01.06.2022
Aufbereitet am: 10.11.2022
2618
Berücksichtigung des Kindeswohls bei Aufhebung des faktischen Abschiebeschutzes
Leitsätze
I. Die Aberkennung des faktischen Abschiebeschutzes kommt insb bei jenen Fällen in Betracht, in denen sich eine (spätere) Zurückweisung wegen entschiedener Sache von vornherein deutlich abzeichnet. Nur dann kann angenommen werden, dass die Antragstellung lediglich den Zweck verfolgt, die Durchsetzung einer vorangegangenen und mit einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme verbundenen Entscheidung zu verhindern. II. Das Kindeswohl ist bei der Prüfung der Voraussetzungen der Aberkennung des faktischen Abschiebeschutzes im Rahmen der Abwägung der öffentlichen Interessen an einer Aufenthaltsbeendigung nicht das einzig ausschlaggebende Kriterium. Vielmehr stellt das Kindeswohl im Rahmen der vorzunehmenden Gesamtbetrachtung nur einen Teilaspekt dar.
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Entscheidungsdatum: 20.06.2022
Aufbereitet am: 09.11.2022