Leitsätze
2387
Formlose Eskortierung illegal eingereister Schutzsuchender an die Grenze zu Serbien durch ungarische Polizisten
Leitsätze
I. Der Begriff der "Ausweisung" in Art 4 4. ZPEMRK ist in der allgemeinen Bedeutung seines aktuellen Gebrauchs zu verstehen ("von einem Ort vertreiben"). Er bezieht sich auf jede zwangsweise Entfernung eines Fremden aus dem Territorium eines Staates, unabhängig von der Rechtmäßigkeit des Aufenthalts der Person, der Dauer dieses Aufenthalts, dem Ort an dem sie aufgegriffen wurde, ihrem Status als Migrant oder Asylsuchender oder ihrem Verhalten beim Überqueren der Grenze. II. Art 4 4. ZPEMRK ist auch auf jene anzuwenden, die beim Versuch, eine Landgrenze zu überqueren, festgenommen und von Grenzbeamten sofort aus dem Staatsgebiet entfernt wurden. III. Art 4 4. ZPEMRK kann selbst dann anwendbar sein, wenn die umstrittene Maßnahme vom innerstaatlichen Recht nicht als "Ausweisung" eingestuft wird. IV. Für die Einschätzung, ob eine Ausweisung als "kollektiv" iSv Art 4 4. ZPEMRK anzusehen ist, ist das Fehlen einer "vernünftigen und sachlichen Prüfung des spezifischen Falls jedes einzelnen Mitglieds der Gruppe" ausschlaggebend. V. Die Eskortierung eines nach unrechtmäßigem Grenzübertritt aufgegriffenen Fremden zur Grenze und die Aufforderung, diese zu überschreiten, ohne dass seine Identität festgestellt und seine individuelle Situation geprüft worden wäre, stellt eine Kollektivausweisung iSv Art 4 4. ZPEMRK dar. Daran vermag auch die Tatsache nichts zu ändern, dass der Landstreifen jenseits des Grenzzauns formal Teil des Hoheitsgebiet des ausweisenden Staats ist. VI. Eine solche Ausweisung ist nur dann mit Art 4 4. ZPEMRK vereinbar, wenn ihr kollektiver Charakter auf das eigene Verhalten des Beschwerdeführers zurückzuführen ist. Davon kann nur ausgegangen werden, wenn der Grenzübertritt eine destabilisierende, schwer unter Kontrolle zu bringende Situation geschaffen oder zu einer Gefährdung der öffentlichen Sicherheit geführt hat oder wenn ein effektiver Zugang zu legalen Wegen der Einreise bestanden hätte, der vom Beschwerdeführer nicht genutzt wurde, obwohl dem keine zwingenden Gründe entgegen gestanden wären. VII. An der Grenze zwischen Serbien und Ungarn bestand für den Beschwerdeführer 2016 keine realistische Möglichkeit, einen Antrag auf internationalen Schutz zu stellen, weil dies nur in einer der beiden Transitzonen zulässig war und er keinen Zutritt zu diesen erhielt.
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Entscheidungsdatum: 08.07.2021
Aufbereitet am: 16.11.2021
2386
Recht der Mitgliedstaaten auf Bestimmung der Zahl drittstaatsangehöriger Arbeitnehmer und Selbstständiger in ihrem Hoheitsgebiet versus Niederlassungsfreiheit
Leitsätze
I. Der Sachverhalt, dass die Gesellschaft eines Mitgliedstaats eine Tochtergesellschaft in einem anderen Mitgliedstaat gründet und dort Schiffe zur Aufnahme einer wirtschaftlichen Tätigkeit registriert, unterfällt der Niederlassungsfreiheit. II. Das vom Flaggen-Mitgliedstaat aufgestellte rechtliche Erfordernis, dass drittstaatsangehörige Besatzungsmitglieder auf einem solchen Schiff grundsätzlich eine Arbeitserlaubnis benötigen, es sei denn, das Schiff läuft die Häfen des Flaggen-Mitgliedstaates nicht öfter als 25 Mal pro Jahr an, stellt keine Beschränkung der Niederlassungsfreiheit iSd Art 49 Abs 1 AEUV dar. Denn eine solche Regelung ist durch Art 79 Abs 5 AEUV als Zugangshürde für Arbeit und Aufenthalt Drittstaatsangehöriger primärrechtlich gedeckt. III. Art 79 Abs 5 AEUV rechtfertigt auch den Umstand, dass eine mitgliedstaatliche Regelung wie die unter II. genannte Schiffsbetreiber besser stellt, welche im betreffenden Mitgliedstaat unter der Flagge eines anderen Mitgliedstaats fahren.
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Entscheidungsdatum: 08.07.2021
Aufbereitet am: 15.11.2021
2385
Zur Asylrelevanz der Angehörigeneigenschaft zu syrischen Wehrdienstverweigerern
Leitsätze
I. Bereits die Angehörigeneigenschaft zu Wehrdienstverweigern bringt syrische Antragsteller auf internationalen Schutz in eine Situation, in der sie aufgrund dieser Eigenschaft mit Repressalien des syrischen Regimes zu rechnen haben (in Sippenhaft als vermeintliche Oppositionelle). Dies können schwerste Repressalien in Gestalt des Verschwindenlassens der Betroffenen bis hin zu deren Folter/Tötung, aber auch Entzug/Vereitelung einer Existenzgrundlage sein. II. Die in I. genannte, zu befürchtende Verfolgung ist dem konventionsrelevanten Verfolgungsgrund "Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe" zuzuordnen. III. Das Vorliegen einer innerstaatlichen Fluchtalternative iSd § 11 AsylG kommt nur dann in Betracht, wenn sowohl eine asylrelevante Verfolgung als auch Gründe im betreffenden Gebiet kumulativ nicht vorliegen, die im Lichte des § 8 AsylG für die Zuerkennung subsidiären Schutzes relevant sind.
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Entscheidungsdatum: 02.02.2021
Aufbereitet am: 11.11.2021
2384
Zur Frage der außergewöhnlichen Integration in gesellschaftlicher und sprachlicher Hinsicht
Leitsätze
I. Damit ein ehrenamtliches Engagement bei der Interessenabwägung für eine besonders qualifizierte Integration in gesellschaftlicher Hinsicht spricht, muss ein entsprechendes Ausmaß erreicht werden. Eine insgesamt viertägige ehrenamtliche Betätigung bei der Stadtgemeinde und in einem Seniorenhaus sowie die Wagenpflege und Lagerreinigung beim Roten Kreuz über einen längeren Zeitraum sind dafür jedenfalls nicht ausreichend. II. Aus dem Vorliegen alltagstauglicher Kenntnisse der deutschen Sprache nach einem mehrjährigen Aufenthalt im Bundesgebiet lässt sich keine außergewöhnliche Integration in sprachlicher Hinsicht ableiten.
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Entscheidungsdatum: 07.04.2021
Aufbereitet am: 10.11.2021
2383
Fluchtgefahr und konkretes Sicherungsbedürfnis bei Arbeits- und Mittellosigkeit, wiederholter Straffälligkeit und fehlendem Wohnsitz
Leitsätze
I. Von einer Fluchtgefahr kann etwa ausgegangen werden, wenn die betroffene Person über keine aufrechte Meldeadresse verfügt, nicht erwerbstätig und auch nicht selbsterhaltungsfähig ist. Liegt zudem aufgrund mehrmaliger Straffälligkeit keine Vertrauenswürdigkeit vor, kann angenommen werden, dass gelindere Mittel nur dazu genutzt werden, um unterzutauchen. II. Familiäre Auseinandersetzungen in der Vergangenheit stehen insb dann, wenn bereits eine rechtskräftige Verurteilung wegen gefährlicher Drohung gegen die eigene Mutter erfolgte, einem geordneten Zusammenleben innerhalb der Familie entgegen. Insofern ist ein (erneutes) Zusammenleben aufgrund einer konfliktbeladenen Familiensituation nicht zielführend. III. Arbeitet die betroffene Person, die zwischenzeitlich auch mehrmals auf Arbeitslosengeld angewiesen ist, wiederholt kurzzeitig, so ist von keiner Verfestigung am Arbeitsmarkt auszugehen.
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Entscheidungsdatum: 09.03.2021
Aufbereitet am: 09.11.2021
2382
Verurteilung wegen Verbrechens allein nicht ausreichend für Aberkennung des subsidiären Schutzstatus
Leitsätze
I. Im Aberkennungsverfahren nach § 9 Abs 2 Z 3 AsylG ist zusätzlich zum Kriterium der rechtskräftigen Verurteilung wegen eines Verbrechens eine vollständige Prüfung sämtlicher Umstände des konkreten Einzelfalls vorzunehmen. II. Im Rahmen dieser einzelfallbezogenen Würdigung sind auch die konkret verhängte Strafe und die Gründe der Strafzumessung zu berücksichtigen.
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Entscheidungsdatum: 23.03.2021
Aufbereitet am: 08.11.2021
2381
Maßgeblichkeit besonderer Prüfkriterien für außerhalb Afghanistans geborene Rückkehrer
Leitsätze
I. Hinsichtlich eines Folgeantrages ist die Behörde bzw das Gericht verpflichtet, Sachverhaltsänderungen sowohl in Bezug auf die Zuerkennung des Status des Asylberechtigten als auch in Bezug auf die Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten einer Prüfung zu unterziehen. II. Maßgebliche Sachverhaltsänderungen müssen dabei nicht zwingend in der Geltendmachung eines neuen Fluchtgrundes gelegen sein, sondern können auch Umstände betreffen, die bei der Prüfung des Vorliegens einer innerstaatlichen Fluchtalternative zu berücksichtigen sind. III. Im Rahmen der Prüfung einer innerstaatlichen Fluchtalternative bedarf es einer Auseinandersetzung mit den allgemeinen Gegebenheiten im Herkunftsstaat und den persönlichen Umständen des Asylwerbers.
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Entscheidungsdatum: 22.03.2021
Aufbereitet am: 05.11.2021
2380
Strafbarkeit mutwilligen Verhaltens als Ausnahmefall
Leitsätze
I. Mutwillig handelt, wer sich im Bewusstsein der Grund- und Aussichtslosigkeit bzw der Nutz- und Zwecklosigkeit seines Anbringens an die Behörde wendet. Zusätzlich verlangt das Gesetz, dass der Mutwille offenbar ist, was dann anzunehmen ist, wenn die erfolgte Inanspruchnahme der Behörde unter solchen Umständen geschieht, dass die Aussichtslosigkeit für jedermann erkennbar ist. II. Strafbarer Mutwille hat das Bewusstsein von der Grundlosigkeit des Antrages zur Voraussetzung. Dies ist anzunehmen, wenn sich der Antragsteller wissentlich auf einen unrichtigen Tatbestand stützt oder ihm bewusst ist, dass der vorliegende Tatbestand keinen Grund für einen Antrag gibt. III. Mit dem Vorwurf des Missbrauchs von Rechtsschutzeinrichtungen ist jedoch äußerst sorgsam umzugehen und kommt ein derartiger Vorwurf nur dann zum Tragen, wenn nach dem Gesamtbild der Verhältnisse keine andere Erklärung bleibt. Die Verhängung einer Mutwillensstrafe kommt daher nur im Ausnahmefall in Betracht.
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Entscheidungsdatum: 23.02.2021
Aufbereitet am: 04.11.2021
2379
Dreijährige Wartefrist für Familienzusammenführung zu subsidiär Schutzberechtigten verletzt das Recht auf Achtung des Familienlebens
Leitsätze
I. Aus Art 8 EMRK kann keine allgemeine Verpflichtung eines Staates abgeleitet werden, die Wahl des ehelichen Wohnsitzes eines verheirateten Paares zu respektieren oder Familienzusammenführung auf seinem Staatsgebiet zu gestatten. Allerdings hängt in einem Fall, der sowohl Familienleben als auch Einwanderung betrifft, die Reichweite der Verpflichtungen eines Staates, Angehörige von dort lebenden Personen auf seinem Gebiet aufzunehmen, von den besonderen Umständen der betroffenen Personen und dem allgemeinen Interesse ab. Sie unterliegt einer Abwägung der betroffenen widerstreitenden Interessen. Dabei zu berücksichtigende Faktoren sind das Ausmaß, in dem Familienleben tatsächlich unterbrochen würde, das Ausmaß der Bindungen im Konventionsstaat, das Bestehen unüberwindbarer Hindernisse für ein Leben der Familie im Herkunftsland des betroffenen Fremden und Faktoren der Einwanderungskontrolle. II. Die Situation allgemeiner Gewalt in einem Staat kann so intensiv sein, dass bei jedem Rückkehrer schon alleine wegen seiner bloßen Anwesenheit von einer realen Gefahr einer gegen Art 3 EMRK verstoßenden Behandlung auszugehen ist. Ein erhöhter Zustrom an Migranten kann einen Staat nicht von seinen Verpflichtungen nach dieser Bestimmung befreien. Grundsätzlich kann dieser Faktor auch den Spielraum einschränken, den Staaten dabei genießen, unter Art 8 EMRK einen gerechten Ausgleich zwischen den widerstreitenden Interessen der Familienzusammenführung und der Einwanderungskontrolle zu treffen, auch wenn Aufnahmestaaten während Phasen des Massenzustroms von Asylwerbern und erheblich beschränkten Ressourcen davon ausgehen dürfen sollten, dass es in ihren Ermessensspielraum fällt, der Gewährung von Schutz nach Art 3 EMRK an eine größere Zahl von Personen Vorrang zu geben gegenüber dem Interesse weniger Personen an einer Familienzusammenführung. III. Während der EGMR keinen Grund sieht, die Logik einer Wartefrist von zwei Jahren, wie sie Art 8 der FamilienzusammenführungsRL zugrunde liegt, in Frage zu stellen, ist er der Ansicht, dass über eine solche Dauer hinaus die unüberwindbaren Hindernisse für ein Familienleben im Herkunftsstaat fortschreitend mehr Bedeutung bei der durch Art 8 EMRK gebotenen Einschätzung des gerechten Ausgleichs gewinnen. Eine gesetzliche Wartefrist von drei Jahren für die Familienzusammenführung zu vorübergehend Schutzberechtigten, denen eine Rückkehr in ihr Heimatland aufgrund der dort herrschenden Situation nicht möglich ist, begründet einen unverhältnismäßigen Eingriff in das Recht auf Achtung des Familienlebens. IV. Der EGMR sieht keinen Grund dafür, die vom Gesetzgeber im Hinblick auf die Familienzusammenführung getroffene Unterscheidung zwischen Personen, denen aufgrund einer individuellen Bedrohung Schutz gewährt wurde, und solchen, denen wegen einer generellen Bedrohung der sogenannte "Status des vorübergehenden Schutzes" eingeräumt wurde, in Frage zu stellen.
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Entscheidungsdatum: 09.07.2021
Aufbereitet am: 03.11.2021
2378
Unzulässigkeit der Beschwerde bei nicht gesetzmäßig zustande gekommener Zustellung des bekämpften Bescheides
Leitsätze
I. Die Erteilung einer allgemeinen Vertretungsvollmacht beinhaltet grundsätzlich auch eine Zustellvollmacht. Im Falle des Bestehens eines wirksamen Vertretungsverhältnisses sind sohin alle Schriftstücke bei sonstiger Unwirksamkeit dem Bevollmächtigten zuzustellen. II. Unterlaufen im Verfahren der Zustellung Mängel (wird etwa statt an den Zustellbevollmächtigten an den Vertretenen zugestellt), so gilt die Zustellung als in dem Zeitpunkt bewirkt, im dem das Dokument dem Empfänger (Zustellbevollmächtigten) tatsächlich zukommt. Die bloße Kenntnisnahme ist nicht ausreichend.
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Entscheidungsdatum: 22.02.2021
Aufbereitet am: 02.11.2021
2377
Kein Wiedereinsetzungsgrund bei unrichtiger Rechtsauskunft der Behörde
Leitsätze
I. Das Verschulden des Vertreters ist jenem des vertretenen Wiedereinsetzungswerbers gleichzusetzen, gleichgültig ob dieser von einem Rechtsanwalt oder einer sonstigen Vertrauensperson vertreten wird. II. Ist ein Rechtsirrtum darauf zurückzuführen, dass der Partei von Seiten der Behörde eine unrichtige Auskunft erteilt wurde, liegt bei einer darauf beruhenden Säumnis kein minderer Grad des Versehens vor, weil behördliche Auskünfte mangels einer gesetzlich angeordneten bindenden Wirkung die Missachtung zwingender gesetzlicher Regelungen nicht zu rechtfertigen vermögen. III. Bei einem Rechtsirrtum, der durch eine unrichtige Rechtsauskunft eines behördlichen Organs veranlasst wurde, ist die Verschuldensfrage im Einzelfall zu prüfen. Ein Wiedereinsetzungsgrund ist nur dann zu verneinen, wenn den Wiedereinsetzungswerber zumindest Fahrlässigkeit trifft. IV. Bei beruflichen, rechtskundigen Parteienvertretern gilt ein besonders strenger Maßstab hinsichtlich der erhöhten Sorgfaltspflichten.
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Entscheidungsdatum: 22.02.2021
Aufbereitet am: 28.10.2021
2376
Zur Unionsrechtskonformität des geforderten Nachweises von Deutschkenntnissen im oö Wohnbeihilfenrecht
Leitsätze
I. Im Falle von "Kernleistungen" der Sozialhilfe oder des Sozialschutzes gilt das an die Mitgliedstaaten gerichtete Gebot der Gleichbehandlung von langfristig aufenthaltsberechtigten Drittstaatsangehörigen im Verhältnis zu eigenen Staatsangehörigen immer und besteht kein Opt-out der Mitgliedstaaten (Art 11 Abs 4 RL 2003/109/EG). II. "Kernleistungen" iSd Art 11 Abs 4 RL 2003/109/EG sind Leistungen der Sozialhilfe oder des Sozialschutzes, welche dazu beitragen, es dem Betroffenen zu erlauben, seine Grundbedürfnisse wie Nahrung, Wohnung und Gesundheit zu befriedigen. Ob dies auch für die jeweils in Rede befindliche Leistung zutrifft, hat das vorlegende Gericht zu beurteilen. Ein etwaiger Anspruch Drittstaatsangehöriger auf andere Sozialleistungen vermag einer Leistung die Eigenschaft als "Kernleistung" nicht zu nehmen. III. Für den Fall, dass eine Leistung keine "Kernleistung" ist, verbleibt die Frage ihrer Gewährung bei Inanspruchnahme des unionsrechtlichen Opt-out (Art 11 Abs 4 RL 2003/109/EG) im Zuständigkeitsbereich der Mitgliedstaaten. IV. Die RL 2000/43/EG (Gleichbehandlungsrichtlinie Rasse) findet nur auf unmittelbare oder mittelbare Diskriminierungen aus Gründen der Rasse oder der ethnischen Herkunft Anwendung, nicht aber aus Gründen der Staatsangehörigkeit. V. Die GRC (EU-Grundrechtecharta) ist nur dann auf die Frage der Gewährung von Sozialleistungen anwendbar, wenn dabei "Durchführung" von Unionsrecht iSd Art 51 GRC vorliegt. Dies ist dann nicht der Fall, wenn die jeweilige Leistung keine "Kernleistung" iSd Art 11 Abs 4 RL 2003/109/EG darstellt und der Mitgliedstaat sich für das Opt-out aus dem Gleichbehandlungsgebot nach dieser Vorschrift entschieden hat. VI. Sollte die jeweilige Leistung hingegen eine "Kernleistung" iSd Art 11 Abs 4 RL 2003/109/EG darstellen, kommt die GRC (EU-Grundrechtecharta) als Prüfmaßstab zur Anwendung. VII. Ein verpflichtender Nachweis von Sprachkenntnissen auf einem bestimmten Niveau für die Gewährung einer Sozialleistung an Drittstaatsangehörige steht in keinem Konflikt mit Art 21 GRC, wenn die jeweilige Regelung (wie § 6 Abs 9 Z 3 und Abs 11 oö WohnbauförderungsG, LGBl 6/1993 idF LGBl 97/2017) Drittstaatsangehörige ohne Unterschied untereinander behandelt.
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Entscheidungsdatum: 10.06.2021
Aufbereitet am: 27.10.2021
2375
Rechtswidrigkeit der Abschiebung einer Unionsbürgerin vor Entscheidung über den Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz
Leitsätze
I. Die Erlassung eines Aufenthaltsverbotes gegen unionsrechtlich aufenthaltsberechtigte EWR-Bürger ist zulässig, wenn auf Grund ihres persönlichen Verhaltens die öffentliche Ordnung und Sicherheit gefährdet ist. Das Verhalten muss eine tatsächliche, gegenwärtige und erhebliche Gefahr darstellen. II. Die Abschiebung vor Entscheidung über die Aberkennung der aufschiebenden Wirkung einer Beschwerde ist gemäß Unionsbürger-RL unzulässig.
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Entscheidungsdatum: 22.01.2021
Aufbereitet am: 26.10.2021
2374
Bindung an den objektiven Erklärungswert einer eingebrachten Beschwerde
Leitsätze
I. Prozesserklärungen einer Partei sind ausschließlich nach ihrem objektiven Erklärungswert auszulegen. Die Behörde ist an das Parteibegehren gebunden, auch wenn sich das ergriffene Rechtsmittel vermutlich gegen einen anderen Bescheid richtet. II. Aus der Rechtsmittelerklärung muss klar und eindeutig hervorgehen, welche Entscheidung der Behörde mit dem Rechtsmittel bekämpft wird; ua ist die den Bescheid erlassende Behörde, die Rechtssache sowie die Geschäftszahl anzuführen. III. Liegt kein Familienverfahren gemäß § 34 AsylG vor, ist auch die das Familienverfahren ergänzende Regelung des § 16 Abs 3 BFA-VG nicht anwendbar, wonach eine von einem Familienmitglied erhobene Beschwerde auch als Beschwerde gegen die anderen Familienangehörigen betreffenden Entscheidungen gilt.
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Entscheidungsdatum: 22.01.2021
Aufbereitet am: 25.10.2021
2373
Unglaubhaft erscheinendes Fluchtvorbringen und mangelnde asylrelevante Verfolgung
Leitsätze
I. Ein junger und gesunder Mensch mit Berufserfahrung und ohne Sorgepflichten ist grundsätzlich in der Lage, sich in seinem Herkunftsstaat (hier: Irak) eine Lebensgrundlage zu schaffen. Dass die betroffene Person allenfalls in Österreich gegenüber der Situation im Herkunftsstaat eine wirtschaftliche Besserstellung erfährt, genügt nicht für die Annahme, dass im Herkunftsstaat keine Lebensgrundlage vorzufinden sei und somit die Existenz nicht gesichert werden könne. II. Im Rahmen der Interessenabwägung wird das Gewicht der privaten Interessen gemindert, wenn diese in einem Zeitpunkt entstanden sind, in dem sich die betroffene Person ihres unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst war.
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Entscheidungsdatum: 03.03.2021
Aufbereitet am: 21.10.2021
2372
Vor Folgeantragstellung bereits gegebener Zugang zum Asylverfahren indiziert Verschleppungsabsicht und damit Sicherungsinteresse bei Schubhaft
Leitsätze
I. Der Haftgrund des Art 8 Abs 3 UAbs 1 lit d RL 2013/33/EU verlangt kumulativ zweierlei: Zum einen, dass eine Person, die internationalen Schutz beantragt, bereits gemäß Kapitel IV der RL 2008/115/EG zum Zweck der Abschiebung inhaftiert ist, und zum anderen, dass berechtigte, auf objektiven Kriterien beruhende Gründe für die Annahme bestehen, dass diese Person den Antrag auf internationalen Schutz nur stellt, um die Vollstreckung der Rückkehrentscheidung zu verzögern oder zu vereiteln. II. Zu den auf "objektiven Kriterien" beruhenden Gründen iSd zweiten Kumulativkriteriums des Art 8 Abs 3 UAbs 1 lit d RL 2013/33/EU zählt auch der im Wortlaut angesprochene Umstand, dass der Betroffene bereits Zugang zum Asylverfahren hatte. III. Diese rechtliche Beurteilung ergibt sich so klar aus dem Wortlaut, dass der EuGH die zugrunde liegende Vorlagefrage ausnahmsweise beschlussmäßig beantworten konnte (Art 99 EuGH-Verfahrensordnung).
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Entscheidungsdatum: 03.06.2021
Aufbereitet am: 20.10.2021
2371
Wann gelten Ausweisungsverfügungen gegen Unionsbürger als vollstreckt?
Leitsätze
I. Eine auf Art 15 Abs 1 RL 2004/38/EG (also nicht auf Art 27 leg cit wegen einer Gefährdung der öffentlichen Sicherheit, Ordnung oder Gesundheit) gestützte Ausweisungsverfügung gegen einen Unionsbürger darf nicht mit einem Aufenthaltsverbot einhergehen (Art 15 Abs 3 leg cit). II. Eine auf Art 15 Abs 1 RL 2004/38/EG gestützte Ausweisungsverfügung gegen einen Unionsbürger gilt nicht schon mit dessen faktischem Verlassen des Gebiets des Aufnahmemitgliedstaats als vollstreckt. Stattdessen kommt es darauf an, ob dieser "seinen Aufenthalt im Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaats tatsächlich und wirksam beendet" hat. III. Für die Beurteilung der "tatsächlichen und wirksamen" Beendigung des Aufenthalts eines Unionsbürgers ist die Zeit des Aufenthalts außerhalb des Aufnahmemitgliedstaats nach Ergehen der Ausweisungsverfügung ein wichtiger Indikator. IV. Den Mitgliedstaaten ist es verwehrt, nach Vollstreckung einer Ausweisungsverfügung iSd Art 15 Abs 1 RL 2004/38/EG gegen Unionsbürger eine Mindestaufenthaltsdauer außerhalb ihres Gebietes, etwa in Höhe von drei Monaten, zu verlangen. V. Von einer Ausweisungsverfügung iSd Art 15 Abs 1 RL 2004/38/EG gegen Unionsbürger bleibt dessen Wiedereinreiserecht gemäß Art 5 leg cit unberührt. VI. Eine Ausweisungsverfügung gegen einen Unionsbürger nach Art 15 Abs 1 RL 2004/38/EG kann diesem nicht entgegengehalten werden, solange seine Anwesenheit im Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaats nach Art 5 dieser RL gerechtfertigt ist.
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Entscheidungsdatum: 22.06.2021
Aufbereitet am: 19.10.2021
2370
Zurückweisung syrischer Schutzsuchender an der polnisch-weißrussischen Grenze
Leitsätze
I. Ein Staat, dessen Grenzbeamte an einem Grenzübergang Schutzsuchenden die Einreise verweigern und sie zurückschicken, übt Hoheitsgewalt iSv Art 1 EMRK über diese Personen aus. II. Ein Rechtsmittel gegen eine Aus- oder Zurückweisung, die mit der Gefahr einer gegen Art 3 EMRK verstoßenden Behandlung verbunden ist, kann nur dann als wirksam angesehen werden, wenn ihm automatische aufschiebende Wirkung zukommt. Rechtsbehelfe, bei denen dies nicht der Fall ist, müssen vor Erhebung einer Beschwerde an den EGMR nicht ergriffen werden. III. Wenn ein Mitgliedstaat einen Schutzsuchenden in einen Drittstaat ab- oder zurückschiebt, ohne den Antrag auf internationalen Schutz in der Sache zu prüfen, muss er sich vergewissern, ob die betroffene Person im Drittstaat angemessenen Zugang zu einem Asylverfahren haben wird. IV. Im Fall der aus Syrien stammenden Beschwerdeführer, die aus Weißrussland kommend bei den polnischen Grenzbeamten auf die Gefahr einer Verfolgung hinwiesen und darlegten, warum sie in Weißrussland keinen Schutz finden könnten, wäre Polen verpflichtet gewesen, die Anträge auf internationalen Schutz zu prüfen und den Beschwerdeführern während des Verfahrens den Aufenthalt in Polen zu erlauben. V. Das Verbot der Kollektivausweisung nach Art 4 4.ZPEMRK verbietet staatliche Maßnahmen, mit denen ein Fremder zum Verlassen des Landes gezwungen wird, ohne dass seine persönlichen Umstände geprüft wurden. Dies gilt auch für Zurückweisungen an der Grenze. VI. An der Grenze zwischen Weißrussland und Polen herrschte zumindest 2017 eine verbreitete Praxis der polnischen Grenzbeamten, Anträge auf internationalen Schutz nicht entgegenzunehmen und Schutzsuchende ohne Prüfung ihrer individuellen Situation zurückzuweisen. Diese Praxis verstieß gegen das Verbot der Kollektivausweisung. VII. Es verstößt gegen das Recht auf Individualbeschwerde (Art 34 EMRK), wenn ein Staat Schutzsuchende an der Grenze zurückweist, obwohl der EGMR die Regierung mittels einstweiliger Maßnahme aufgefordert hat, die Anträge auf internationalen Schutz zu prüfen und den Betroffenen den vorübergehenden Aufenthalt zu gestatten.
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Entscheidungsdatum: 08.07.2021
Aufbereitet am: 18.10.2021
2369
Wegfall des unionsrechtlichen Aufenthaltsrechts infolge der Ehescheidung
Leitsätze
I. Familiäre Beziehungen unter Erwachsenen fallen nur dann unter den Schutz des Familienlebens iSd Art 8 Abs 1 EMRK, wenn zusätzliche Merkmale der Abhängigkeit hinzutreten, die über gewöhnliche Bindungen hinausgehen. In diesem Zusammenhang ist etwa das Vorliegen eines gemeinsamen Wohnsitzes zu beachten. II. Eine Verletzung des Privatlebens iSd Art 8 Abs 1 EMRK liegt nicht vor, wenn etwa die Aufenthaltsdauer der betroffenen Person relativ kurz (hier: drei Jahre) ist und die erlangte Integration in dieser Zeit nicht außergewöhnlich ist. Eine Aufenthaltsbeendigung kann zB auch nach einem Aufenthalt von sechs Jahren im Bundesgebiet trotz vorhandener Integrationsschritte im öffentlichen Interesse (Art 8 Abs 2 EMRK) liegen.
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Entscheidungsdatum: 08.02.2021
Aufbereitet am: 14.10.2021
2368
Neuerlich zum maßgeblichen Studienjahr
Leitsätze
Für den nachzuweisenden Studienerfolg kommt es ausschließlich auf jene Prüfungen an, die im betreffenden, dh im vorangegangenen (vom 1.10. bis zum 30.9. dauernden), Studienjahr absolviert wurden; für eine Ausweitung über diesen Zeitraum hinaus besteht kein Raum.
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Entscheidungsdatum: 21.01.2021
Aufbereitet am: 13.10.2021