Leitsätze
2647
Unionsrechtswidrigkeit der Bindung der Asylbehörde an Stellungnahmen anderer Behörden und übermäßiger Beschränkungen von Parteienrechten
Leitsätze
I. Art 41 GRC (Recht auf eine gute Verwaltung) ist auf die Asylbehörden der Mitgliedstaaten nicht anwendbar, adressiert er doch nur die Organe, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Europäischen Union. Wohl aber reflektiert die Garantie einen allgemeinen Rechtsgrundsatz des Unionsrechts, der auch auf den indirekten Vollzug von Unionsrecht durch mitgliedstaatliche Behörden Anwendung findet. II. Eine nationale Rechtslage, die zum einen den Zugang zu den für Entscheidungen auf Aberkennung eines Schutzstatus tragenden Gründen, welche Bestandteil von Verschlusssachen sind, nur unter Genehmigungsvorbehalt gewährt und zum anderen keine Mitteilung der Gründe für die Entscheidung über die Genehmigung an den Betroffenen vorsieht und überdies die Verwertung dieser Informationen in Verwaltungs- oder Gerichtsverfahren versagt, ist mit Unionsrechtswidrigkeit behaftet. Konkret widerstreitet sie Art 47 GRC (Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf und ein unparteiisches Gericht), Art 41 GRC (Recht auf eine gute Verwaltung) sowie Art 23 Abs 1 iVm Art 45 Abs 4 RL 2013/32/EU, weil dadurch Parteienrechte ebenso wie die Garantie auf gerichtlichen Rechtsschutz unterminiert werden. III. Die Asylbehörde iSd Art 2 lit f RL 2013/32/EU muss über volle Rechts- und Tatsachenkognition bei der Fällung von Entscheidungen über die Zuerkennung bzw Aberkennung von Asyl oder subsidiärem Schutz verfügen. Eine Bindung an Stellungnahmen anderer Behörden (insb der Sicherheitsbehörden) ist mit der RL 2013/32/EU (VerfahrensRL) nicht vereinbar. Dies schließt freilich die Berücksichtigung von Informationen solcher Behörden durch die Asylbehörde nicht aus. IV. Art 17 Abs 1 lit b RL 2011/95/EU schließt Antragsteller, die eine "schwere Straftat" begangen haben, von der Zuerkennung subsidiären Schutzes aus. Dass die Asylbehörde von der Begehung der einschlägigen Straftat zum Zeitpunkt der Zuerkennung bereits wusste, verschafft den Antragstellern keinen Vertrauensschutz. Vielmehr greift der Ausschlusstatbestand zu jeder Zeit und verpflichtet die Asylbehörde, in solchen Konstellationen eine Aberkennungsentscheidung folgen zu lassen. Dabei muss die Asylbehörde jedoch eine umfängliche Würdigung der Umstände des Einzelfalls vornehmen.
Lesen Sie mehr (vorher anmelden)
Entscheidungsdatum: 22.09.2022
Aufbereitet am: 22.12.2022
2646
Kostenersatz durch Bund für vom Land erbrachte Grundversorgungsleistungen
Leitsätze
I. Einer Klage des Landes Wien gegen den Bund auf Kostenersatz für vom Land erbrachte Grundversorgungsleistungen wird stattgegeben, da der Bund die Kosten zu 100 % für subsidiär Schutzberechtigte, über deren Asylstatus nicht binnen zwölf Monaten (rechtskräftig) entschieden wurde, zu tragen hat. II. Durch das Fremdenrechtspaket 2005 kommt es auf Grund der Beibehaltung des Verfahrensablaufs einschließlich der Umsetzung des Refoulement-Verbotes zu keiner Änderung des Begriffs "Asylwerber" in der Grundversorgungsvereinbarung.
Lesen Sie mehr (vorher anmelden)
Entscheidungsdatum: 07.10.2021
Aufbereitet am: 21.12.2022
2645
Die Missachtung einer Ausreiseverpflichtung rechtfertigt nicht per se die Annahme einer Fluchtgefahr
Leitsätze
I. Die Tatsache, dass von der fremden Person die Ausreiseverpflichtung über viele Jahre hinweg missachtet wird, rechtfertigt nicht die Annahme des Vorliegens einer Fluchtgefahr, wenn beispielsweise ein gefestigter Wohnsitz vorliegt und sich die fremde Person in der Vergangenheit stets kooperativ verhalten und sich nie einem Verfahren entzogen hat. II. Die fehlende Ausreisewilligkeit einer fremden Person trotz rechtskräftiger Rückkehrverpflichtung rechtfertigt für sich genommen nicht die Verhängung der Schubhaft. Der aktuelle Sicherungsbedarf hat vielmehr in weiteren Umständen wie etwa in einer mangelnden sozialen Verankerung in Österreich begründet zu sein. Aufgrund dieser Tatsache kann beispielsweise die Befürchtung, es bestehe das Risiko des Untertauchens der fremden Person, gerechtfertigt sein.
Lesen Sie mehr (vorher anmelden)
Entscheidungsdatum: 05.05.2022
Aufbereitet am: 20.12.2022
2644
Missbräuchliche Stellung eines Asylantrags aus wirtschaftlichen Gründen
Leitsätze
I. Werden keine asylrelevanten Gründe vorgebracht, sondern beruft sich der Beschwerdeführer hauptsächlich darauf, mit seinem in Österreich lebenden Sohn – mit dem er zuletzt vor fünf Jahren Kontakt hatte und für den er nicht obsorgeberechtigt ist – ein Familienleben aufnehmen zu wollen, so ist der Schluss gerechtfertigt, dass der Asylantrag bloß in der Absicht, die Normen des Asyl- und Fremdenrechts zu umgehen, gestellt wurde. II. Dass die fremde Person in Österreich allenfalls wirtschaftlich gegenüber ihrer Situation im Herkunftsstaat (hier: Marokko) bessergestellt ist, genügt nicht für die Annahme, es ließe sich im Herkunftsstaat keine Lebensgrundlage aufbauen und damit die Existenz nicht sichern. Für eine derartige Annahme haben jedenfalls Hinweise auf exzeptionelle Umstände vorzuliegen.
Lesen Sie mehr (vorher anmelden)
Entscheidungsdatum: 10.03.2022
Aufbereitet am: 19.12.2022
2643
Verweigerung der Rückholung von Frauen und Kindern, die in Nordostsyrien in Lagern für Anhänger*innen des Daesch angehalten werden
Leitsätze
I. Wenn es dem direkten Opfer einer behaupteten Verletzung der EMRK aufgrund besonderer Umstände unmöglich ist, sich selbst an den EGMR zu wenden, können Dritte auch ohne Vorlage einer Vollmacht die Beschwerde in dessen Namen erheben. Ausschlaggebend sind dabei insb die Verletzlichkeit des Opfers, dessen Verbindungen zur Beschwerde erhebenden Person und das Fehlen eines Interessenkonflikts. Im vorliegenden Fall können die Eltern von in syrischen Lagern angehaltenen Frauen eine sich auf die Weigerung Frankreichs, sie zu repatriieren, beziehende Beschwerde erheben, weil die Frauen sich in einer Situation besonderer Verletzlichkeit befinden, sie ihre Absicht zurückzukehren klar zum Ausdruck gebracht haben, ihnen die Übermittlung einer Vollmacht nicht möglich ist und kein Interessenkonflikt besteht. II. Die bloße Einleitung eines Verfahrens durch einen Beschwerdeführer in einem Vertragsstaat, zu dem er keine Verbindung hat, kann nicht ausreichen, um die Hoheitsgewalt dieses Staats über ihn zu begründen. Andernfalls würde es zu einer beinahe universellen Geltung der Konvention aufgrund der einseitigen Entscheidungen irgendeiner Person kommen, egal wo auf der Welt sie sich befindet, und damit eine uneingeschränkte Verpflichtung der Vertragsstaaten geschaffen, einer Person die Einreise zu gestatten, der außerhalb ihrer Hoheitsgewalt eine mit der EMRK unvereinbare Misshandlung drohen könnte. Daher kann die Einleitung von Verfahren durch die beschwerdeführenden Eltern vor französischen Gerichten nicht ausreichen, um die Hoheitsgewalt Frankreichs im Hinblick auf ihre Töchter und Enkelkinder zu begründen. III. Da Frankreich keine Kontrolle über die Lager in Nordostsyrien ausübt und auch sonst keine besonderen Merkmale vorliegen, bringt die bloße Entscheidung der französischen Behörden, die Familienangehörigen der Beschwerdeführer nicht zu repatriieren, diese hinsichtlich der Misshandlung, der sie in den syrischen, von Kurden kontrollierten Lagern ausgesetzt sind, nicht unter die französische Hoheitsgewalt. IV. Das Recht auf Einreise kann sich nicht auf Personen beschränken, die sich bereits unter der Hoheitsgewalt des Staates der eigenen Staatsbürgerschaft befinden, da es ansonsten seiner Wirksamkeit beraubt würde. Bestimmte Umstände bezüglich der Situation von Personen, die in den Staat einreisen wollen, dessen Staatsbürgerschaft sie besitzen, und sich dabei auf Art 3 Abs 2 4. ZPEMRK berufen, können eine im Hinblick auf die Hoheitsgewalt relevante Verbindung zu diesem Staat begründen. V. Im vorliegenden Fall liegen derartige Umstände im Hinblick auf die in Lagern in Nordostsyrien festgehaltenen Töchter und Enkelkinder der beschwerdeführenden Eltern vor: Sie wandten sich wiederholt mit der Bitte um Repatriierung an die französischen Behörden; die Lebensbedingungen in den Lagern sind mit der Menschenwürde unvereinbar und die Betroffenen befinden sich dort in einer Situation extremer Verwundbarkeit; die betroffenen Personen sind wegen der Art und der Dauer ihrer Anhaltung ohne die Unterstützung der französischen Behörden nicht in der Lage, die Lager zu verlassen, um nach Frankreich zurückzukehren; die kurdischen Behörden erklärten ihre Bereitschaft, die weiblichen Gefangenen französischer Staatsangehörigkeit und ihre Kinder an die französischen Behörden zu übergeben. VI. Auch informelle oder indirekte Maßnahmen, die dem Staatsangehörigen de facto den effektiven Genuss seines Rechts auf Rückkehr entziehen, können unter bestimmten Umständen mit dieser Bestimmung unvereinbar sein. Aus ihr können sich folglich auch positive Verpflichtungen der Behörden ergeben. VII. Art 3 Abs 2 4. ZPEMRK verpflichtet die Mitgliedstaaten nicht dazu, ihre Staatsangehörigen zu repatriieren. Französische Staatsbürger*innen, die in den Lagern im Nordosten Syriens angehalten werden, können daher kein generelles Recht auf Repatriierung auf der Grundlage des Rechts auf Einreise in das Staatsgebiet nach Art 3 Abs 2 4. ZPEMRK geltend machen. VIII. Allerdings kann Art 3 Abs 2 4. ZPEMRK dem Staat eine positive Verpflichtung auferlegen, wenn seine Weigerung, aktiv zu werden, unter den konkreten Umständen eines Falls den betroffenen Staatsangehörigen in einer Situation belassen würde, die de facto mit jener der Verbannung vergleichbar wäre. Dies wird allerdings nur unter außergewöhnlichen Umständen der Fall sein. VIII. Eine Entscheidung über die Repatriierung von im Ausland festgehaltenen Staatsangehörigen muss frei von Willkür getroffen werden. Daher muss der Entscheidungsfindungsprozess von ausreichenden Verfahrensgarantien begleitet sein, die eine Vermeidung jeglicher Willkür gewährleisten. Die Ablehnung eines Ersuchens um Repatriierung muss daher von einem unabhängigen Spruchkörper überprüft werden können. Dabei muss es sich nicht zwingend um ein Gericht handeln.
Lesen Sie mehr (vorher anmelden)
Entscheidungsdatum: 14.09.2022
Aufbereitet am: 16.12.2022
2642
Unzuständigkeit der LPD für Visaanträge, die nicht eindeutig solchen gemäß § 5 Abs 1 Z 2 FPG entsprechen
Leitsätze
I. Die LPD, die für Anträge auf Verlängerung von Visa D idR unzuständig ist (§ 5 FPG), muss derartige Verlängerungsanträge nicht als Anträge auf Visa D aus besonders berücksichtigungswürdigen Gründen (§§ 20 Abs 1 Z 8, 22a FPG) deuten. Dies gilt gerade dann nicht, wenn der oder die Einschreiter*in sich nicht auf § 22a FPG beruft, entgegen dieser Bestimmung zum Zeitpunkt der Antragstellung nicht mehr im Bundesgebiet aufenthaltsberechtigt ist und obendrein anwaltlich vertreten ist, sodass die Manuduktionspflicht gemäß § 13a AVG nicht greift. Die LPD hat solche Anbringen sohin – nach einem fruchtlosen Vorgehen gemäß § 6 Abs 1 AVG, also wenn der oder die Einschreiter*in auf ihre Zuständigkeit beharrt – wegen Unzuständigkeit zurückzuweisen. II. § 11a Abs 2 FPG (Verbot der Durchführung einer mündlichen Verhandlung vor dem BVwG) gilt auch in Visaangelegenheiten vor der LPD und – entgegen der Normüberschrift – nicht nur jenen vor Vertretungsbehörden.
Lesen Sie mehr (vorher anmelden)
Entscheidungsdatum: 02.06.2022
Aufbereitet am: 15.12.2022
2641
Keine Verleihung der österreichischen Staatsbürgerschaft wegen Erreichens der Volljährigkeit nach Antragstellung
Leitsätze
Im Sinne einer verfassungskonformen Auslegung des staatsbürgerschaftsrechtlichen Erfordernisses der Minderjährigkeit ist zur Vermeidung von Zufälligkeiten oder manipulativen Umständen der Verfahren davon auszugehen, dass nach § 12 Abs 1 Z 3 iVm § 17 Abs 1 StbG für die spezifische Voraussetzung der Minderjährigkeit auf den Zeitpunkt der Antragstellung bei der Staatsbürgerschaftsbehörde abzustellen ist.
Lesen Sie mehr (vorher anmelden)
Entscheidungsdatum: 01.07.2022
Aufbereitet am: 14.12.2022
2640
Klarstellungen zum Begriff des "Familienangehörigen" iSd Art 3 Abs 2 lit a RL 2004/38/EG
Leitsätze
I. Begriffe des Unionsrechts sind unionsweit einheitlich auszulegen, so auch die in Art 3 Abs 2 lit a RL 2004/38/EG verwendete Definition von besonderen Familienangehörigen von Unionsbürgern. II. Bei der Beurteilung, ob ein Familienangehöriger, der nicht unter Art 2 Z 2 RL 2004/38/EG fällt, womöglich unter Art 3 Abs 2 lit a RL 2004/38/EG zu subsumieren ist, ist auf die folgenden Parameter abzustellen: Zwischen dem Unionsbürger und dessen Familienangehörigen muss ein Abhängigkeitsverhältnis bestehen, wobei etwa die folgenden Gesichtspunkte ausschlaggebend sind: Dauer des Zusammenlebens, der Grad einer Verwandtschaft und die Intensität der Beziehung. Für diese Beurteilung ist nicht nur der Zeitraum seit dem Erwerb der Unionsbürgerschaft zu würdigen. III. Zwar steht den in Art 3 Abs 2 lit a RL 2004/38/EG definierten Familienangehörigen anders als jenen iSd Art 2 Z 2 leg cit nicht unmittelbar ein Einreise- und Aufenthaltsrecht im Aufnahmemitgliedstaat zu. Wohl aber trifft die Mitgliedstaaten gemäß Art 3 Abs 2 UAbs 2 RL 2004/38/EG eine eingehende Untersuchungspflicht der genannten persönlichen Umstände (oben II.) und – im Falle der Verweigerung der Einreise oder des Aufenthalts dieser Personen – eine Begründungspflicht.
Lesen Sie mehr (vorher anmelden)
Entscheidungsdatum: 15.09.2022
Aufbereitet am: 13.12.2022
2639
Keine Pflicht zur Abschiebung
Leitsätze
Eine Rückkehrentscheidung wird wirkungslos, wenn eine Neubeurteilung (im Zeitpunkt des Vollzugs der Abschiebung) zum Ergebnis führt, dass die privaten Interessen des Fremden am Verbleib in Österreich nunmehr den entgegenstehenden öffentlichen Interessen an seiner Außerlandesbringung überwiegen, wenn sich die Situation also so darstellt, dass ein Aufenthaltstitel nach § 55 AsylG 2005 zu erteilen wäre und die Rückkehrentscheidung damit gemäß § 60 Abs 3 FPG 2005 gegenstandslos würde.
Lesen Sie mehr (vorher anmelden)
Entscheidungsdatum: 26.07.2022
Aufbereitet am: 12.12.2022
2638
Familieneinheit nach Sekundärmigration und Kindesgeburt in einem anderen Mitgliedstaat
Leitsätze
I. Eine analoge Anwendung des Art 20 Abs 3 Dublin III-VO auf die Asylanträge Minderjähriger, deren Eltern in einem anderen Mitgliedstaat ein Schutzstatus zuerkannt worden und deren Antrag im nunmehrigen Mitgliedstaat schon vor der Antragstellung des Kindes als unzulässig zurückgewiesen worden war, scheidet aus. Stattdessen ist für die Anträge solcher Minderjähriger Art 9 Dublin III-VO einschlägig. Scheitert die Anwendung dieses Zuständigkeitstatbestands, ist gemäß Art 3 Abs 2 Dublin III-VO der erste Mitgliedstaat der Antragstellung zuständig. II. Eine analoge Anwendung des Unzulässigkeitstatbestands des Art 33 Abs 2 lit a RL 2013/32/EU auf Minderjährige in der geschilderten Situation (I.) kommt nicht in Betracht.
Lesen Sie mehr (vorher anmelden)
Entscheidungsdatum: 01.08.2022
Aufbereitet am: 09.12.2022
2637
Unglaubwürdigkeit der Fluchtgründe wegen mangelnder Stringenz des Fluchtvorbringens
Leitsätze
I. Werden die Fluchtgründe in den einzelnen Einvernahmen bzw in der mündlichen Verhandlung vor dem BVwG abgeändert, so zeigt sich, dass die fremde Person keine gleichbleibenden Schilderungen tätigt. Dies lässt die Schlussfolgerung zu, dass die behaupteten Gründe nicht der Wahrheit entsprechen. Ist aufgrund dürftiger Schilderungen ein mehrmaliges Nachfragen erforderlich und sind die Angaben der fremden Person dennoch nicht konkreter, so spricht auch dies gegen die Glaubwürdigkeit des Vorbringens. II. Um von einem Überwiegen der privaten Interessen der fremden Person an einem Verbleib im österreichischen Bundesgebiet gegenüber den öffentlichen Interessen an einer Rückkehr der fremden Person in deren Herkunftsstaat ausgehen zu können, haben entscheidungserhebliche integrative Anknüpfungspunkte in Österreich vorzuliegen. Keine integrativen Schritte liegen beispielsweise vor, wenn die fremde Person seit mehr als vier Jahren Leistungen aus der Grundversorgung bezieht, keine Deutschkenntnisse aufweisen und auch sonst keine Verfestigung oder Eingliederung in die österreichische Gesellschaft vorweisen kann.
Lesen Sie mehr (vorher anmelden)
Entscheidungsdatum: 04.08.2022
Aufbereitet am: 06.12.2022
2636
Zur Ausstellung eines Fremdenpasses
Leitsätze
Eine subsidiär schutzberechtigte Person ist dann nicht in der Lage, sich ein Reisedokument ihres Herkunftsstaats zu beschaffen, wenn dessen Vertretungsbehörde die Ausstellung verweigert. Damit die Abweisung eines Antrags auf Ausstellung eines Fremdenpasses grundsätzlich zu Recht erfolgen kann, muss für die antragstellende Person die konkrete Möglichkeit bestehen, sich Reisedokumente ihres Heimatstaats zu beschaffen. Eine bloß abstrakte Möglichkeit, dass die Vertretungsbehörde grundsätzlich willens ist, für die betroffene Person ein Reisedokument auszustellen, ist nicht ausreichend.
Lesen Sie mehr (vorher anmelden)
Entscheidungsdatum: 08.02.2022
Aufbereitet am: 05.12.2022
2635
Von Unionsbürgern abgeleitete Aufenthaltsrechte unmittelbar kraft Art 20 AEUV
Leitsätze
I. Für drittstaatsangehörige Familienangehörige von Unionsbürgern kann sich – wenn nicht schon aus anderen Rechtsgrundlagen – subsidiär aus Art 20 AEUV und damit dem Status des Unionsbürgers ein abgeleitetes Aufenthaltsrecht ergeben. II. Die Mitgliedstaaten dürfen Drittstaatsangehörigen von Unionsbürgern abgeleitete Aufenthaltsrechte nicht alleine auf Grund fehlender Existenzmittel verweigern. Vielmehr haben sie gemäß Art 20 AEUV zu prüfen, ob zwischen Unionsbürgern und Drittstaatsangehörigen ein derart starkes faktisches Abhängigkeitsverhältnis besteht, dessentwegen der Unionsbürger bei Ausweisung des Drittstaatsangehörigen faktisch gezwungen wäre, mitzugehen. Bei zusätzlich gegebener Straffälligkeit des Drittstaatsangehörigen ist eine umfassende Interessenabwägung im Lichte des allgemeinen Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes und der Grundrechte, allenfalls auch des Kindeswohlgrundsatzes vorzunehmen. III. Zwischen Ehegatten besteht ein Abhängigkeitsverhältnis iSd Art 20 AEUV (siehe oben II.) nicht schon wegen der zivilrechtlichen Verpflichtung zum Zusammenleben (vgl für Österreich § 90 Abs 1 ABGB). IV. Auch ein drittstaatsangehöriges minderjähriges Kind eines ebenso drittstaatsangehörigen Familienangehörigen eines Unionsbürgers kann mitunter ein abgeleitetes Aufenthaltsrecht erwerben, wenn dessen Nichtgewährung auf Grund eines bestehenden Abhängigkeitsverhältnisses iSd Art 20 AEUV (siehe oben II.) zu einem faktischen Zwang des drittstaatsangehörigen Elternteils führte, das Unionsgebiet zu verlassen und dies wiederum dazu führte, dass auch der Unionsbürger faktisch zu diesem Schritt gezwungen wäre.
Lesen Sie mehr (vorher anmelden)
Entscheidungsdatum: 05.05.2022
Aufbereitet am: 02.12.2022
2634
Rückkehrentscheidung aufgrund Gefährdung öffentlicher Interessen trotz langer (etwa 30 Jahre) rechtmäßiger Aufenthaltsdauer
Leitsätze
I. Eine besonders gravierende bzw schwere Straffälligkeit liegt beispielsweise aufgrund der Begehung eines schweren Raubes und einer Freiheitsentziehung, welche zu einer unbedingten elfjährigen Freiheitsstrafe führten, vor. Aufgrund einer derartig massiven Straffälligkeit kann jedenfalls von einer Gefährdung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit durch die fremde Person ausgegangen werden, weswegen der (weitere) Aufenthalt der fremden Person den öffentlichen Interessen widerstreitet. II. War die fremde Person langjährig rechtmäßig in Österreich niedergelassen und spricht sie Deutsch auf muttersprachlichem Niveau, so hat die Interessenabwägung – trotz einer von der fremden Person ausgehenden Gefährdung – regelmäßig zu ihren Gunsten auszugehen und eine aufenthaltsbeendende Maßnahme darf in einer derartigen Konstellation grundsätzlich nicht erlassen werden. III. Trotz eines Einreiseverbots kann die fremde Person ihre Bindungen zu in Österreich lebenden Familienangehörigen durch briefliche, telefonische oder elektronische Kontakte aufrechterhalten. Befindet sich die fremde Person in den nächsten Jahren in Strafhaft, so muss sich der Kontakt ohnehin im Wesentlichen auf diese Kommunikationsformen beschränken. Dadurch wird das Gewicht des Privat- und Familienlebens in einem gewissen Maß relativiert. IV. Je ausdrücklicher sich die Gefährlichkeit der fremden Person manifestiert, desto länger ist ihr Wohlverhaltenszeitraum anzusetzen. Befindet sich die fremde Person jedoch in Haft, so liegt klarerweise noch kein Wohlverhaltenszeitraum vor, weshalb nicht auf einen Gesinnungswandel und eine positive Zukunftsprognose geschlossen werden kann.
Lesen Sie mehr (vorher anmelden)
Entscheidungsdatum: 05.07.2022
Aufbereitet am: 01.12.2022
2633
Jedenfalls umfassender Versicherungsschutz bei freiwilliger Selbstversicherung in der gesetzlichen Krankenversicherung
Leitsätze
I. Erfolgt eine freiwillige Selbstversicherung in der gesetzlichen Krankenversicherung gemäß § 16 Abs 2 ASVG, so ist betreffend eine allfällig private Krankenversicherung nicht mehr zu prüfen, ob die Leistungen jener der gesetzlichen Krankenversicherung in Österreich entsprechen. II. Bei einer freiwilligen Selbstversicherung in der gesetzlichen Krankenversicherung ist von einem ausreichenden Versicherungsschutz für ein drei Monate übersteigendes unionsrechtliches Aufenthaltsrecht auszugehen.
Lesen Sie mehr (vorher anmelden)
Entscheidungsdatum: 10.02.2022
Aufbereitet am: 30.11.2022
2632
Versorgungslage für Schutzberechtigte in Griechenland
Leitsätze
Ein in Griechenland als Schutzberechtigter anerkannter syrischer Staatsangehöriger wird durch die Zurückweisung eines Antrags auf internationalen Schutz mangels hinreichender Auseinandersetzung mit der allgemeinen Rückkehrsituation im Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander verletzt.
Lesen Sie mehr (vorher anmelden)
Entscheidungsdatum: 29.04.2022
Aufbereitet am: 29.11.2022
2631
Refoulementverbotswidrigkeit der Rückführung einer Mehrkindfamilie in den Irak
Leitsätze
Auch wenn ein Familienvater vor der – sieben Jahre zurückliegenden – Ausreise alleine für die Mehrkindfamilie sorgen konnte, darf nicht davon ausgegangen werden, er könne dies auch nach Jahren des Aufenthalts im österreichischen Bundesgebiet. Wenn weitere Rückkehrprobleme für Familienmitglieder im Herkunftsstaat bis zum Grad der existenziellen Bedrohung hinzutreten und auch keine zumutbare innerstaatliche Fluchtalternative (§ 11 AsylG) vorliegt, ist allen Mitgliedern solcherart betroffener Familien subsidiärer Schutz iSd § 8 Abs 1 Z 1 AsylG zuzuerkennen.
Lesen Sie mehr (vorher anmelden)
Entscheidungsdatum: 02.06.2022
Aufbereitet am: 28.11.2022
2630
Rückführungsentscheidung der Schweiz als absoluter Versagungsgrund
Leitsätze
I. Nach § 11 Abs 1 Z 2 NAG kommt es für die Annahme dieses Versagungsgrundes allein auf das Bestehen einer Rückführungsentscheidung eines anderen EWR-Staates oder der Schweiz (und nicht auf eine allfällige Ausschreibung im Schengener Informationssystem) an. II. Im Hinblick auf den Versagungsgrund des § 11 Abs 1 Z 2 NAG ist eine Gefährdungsprognose nicht vorzunehmen. III. Da es sich bei § 11 Abs 1 Z 2 NAG (grundsätzlich) um einen absoluten Versagungsgrund handelt, ist bei dessen Vorliegen eine Interessenabwägung nicht vorgesehen. IV. Der Wunsch nach einem gemeinsamen Familienleben begründet für sich genommen noch keine Ausnahmesituation iSv EuGH 15.11.2011, C-256/11, Dereci ua.
Lesen Sie mehr (vorher anmelden)
Entscheidungsdatum: 05.07.2022
Aufbereitet am: 25.11.2022
2629
Zur Niederlassungsbewilligung nach § 43 Abs 3 NAG
Leitsätze
I. Anträge von Inhabern einer Aufenthaltsberechtigung nach § 55 Abs 2 AsylG auf Erteilung einer "Niederlassungsbewilligung" gemäß § 43 Abs 3 NAG sind als Erstanträge und nicht als Verlängerungsanträge iSv § 2 Abs 1 Z 11 NAG zu qualifizieren. II. Zwischen der "Niederlassungsbewilligung" nach § 43 Abs 3 NAG und den in dieser Bestimmung aufgezählten Aufenthaltstiteln gemäß § 55 bzw § 56 AsylG besteht insoweit ein untrennbarer Zusammenhang, als der in Rede stehende Aufenthaltstitel nach dem NAG nur in unmittelbarem Anschluss an die erwähnten Titel nach dem AsylG erteilt werden kann. Dass die Aufenthaltstitel nach § 41a Abs 9 Z 1 und 2 sowie § 43 Abs 3 NAG die "Weiterführung" eines vorangegangenen, auf § 55 bzw § 56 AsylG gegründeten Aufenthaltsrechts darstellen und die in Rede stehenden Titel nach dem NAG bei ihrer erstmaligen Erteilung daher nur "im Anschluss" an einen Aufenthaltstitel nach § 55 bzw § 56 AsylG erlangt werden können, spiegelt sich auch in § 44a NAG wider. Demnach ist in Verfahren gemäß § 41a Abs 9 Z 1 und 2 sowie § 43 Abs 3 NAG ausdrücklich die sinngemäße Anwendung des § 24 Abs 1 und 2 sowie des § 20 Abs 2 NAG vorgesehen.
Lesen Sie mehr (vorher anmelden)
Entscheidungsdatum: 21.06.2022
Aufbereitet am: 24.11.2022
2628
Sanktionen gegen grob gewalttätige Asylwerber; Bekräftigung des "Haqbin-Urteils"
Leitsätze
I. Der zweite Tatbestand des Art 20 Abs 4 RL 2013/33/EU ("grob gewalttätiges Verhalten") ist dahin auszulegen, dass er auch tatbildliche Handlungen von Asylwerbern außerhalb von Unterbringungszentren erfasst. II. Wie bereits im Urteil EuGH 12.11.2019, Rs C-233/18 (Haqbin), ECLI:EU:C:2019:956, judiziert, ist ein Totalentzug von im Rahmen der Aufnahme gewährten materiellen Leistungen (Grundversorgungsleistungen) iSd Art 2 lit f und g RL 2013/33/EU niemals zulässig (wegen Unvereinbarkeit mit dem Gebot der Bereitstellung eines würdigen Lebensstandards iSd Art 20 Abs 5 Satz 3 leg cit sowie dem in Satz 2 leg cit statuierten Verhältnismäßigkeitsgrundsatz). III. Art 20 Abs 4 und 5 RL 2013/33/EU hindern nicht an der Inhaftnahme von Asylwerbern gemäß Art 8 Abs 3 lit e RL 2013/33/EU, sofern die Voraussetzungen der Art 8–11 leg cit erfüllt sind. IV. Die absolute Unzulässigkeit eines Totalentzugs von im Rahmen der Aufnahme gewährten materiellen Leistungen (Grundversorgungsleistungen) vermag auch nicht durch Verfahrensgarantien im Recht der Mitgliedstaaten relativiert zu werden.
Lesen Sie mehr (vorher anmelden)
Entscheidungsdatum: 01.08.2022
Aufbereitet am: 23.11.2022