Leitsätze
2669
Berücksichtigung eines allfälligen, maßgeblich geänderten Sachverhalts seit Erlassen der Rückkehrentscheidung bei nachträglichem Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels nach Art 8 EMRK
Leitsätze
I. Ein maßgeblich geänderter Sachverhalt ist schon dann gegeben, wenn die geltend gemachten Umstände nicht von vornherein eine neue Beurteilung aus dem Blickwinkel des Art 8 EMRK ausgeschlossen erscheinen lassen. II. Es besteht kein relevanter Zeitraum, der seit Erlassung der Rückkehrentscheidung vergangen sein muss, um eine Neubeurteilung nach Art 8 EMRK notwendig zu machen.
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Entscheidungsdatum: 22.08.2022
Aufbereitet am: 06.02.2023
2668
Zum "umfassenden Krankenversicherungsschutz" iSv § 51 Abs 1 Z 2 NAG
Leitsätze
I. Mit den in § 51 Abs 1 NAG normierten Voraussetzungen für das Niederlassungsrecht von EWR-Bürgern in Österreich wurden die in Art 7 Abs 1 der RL 2004/38/EG aufgezählten Voraussetzungen umgesetzt. II. Auf dem Boden des Unionsrechts sind gesetzliche Bestimmungen, die in Umsetzung einer unionsrechtlichen Richtlinie erlassen wurden, so weit wie möglich im Lichte des Wortlauts und des Zwecks dieser Richtlinie auszulegen und anzuwenden, um das mit ihr angestrebte Ziel zu erreichen. Außerdem sind in unionsrechtlichen Vorschriften enthaltene Begriffe autonom und einheitlich auszulegen. III. Art 7 Abs 1 der RL 2004/38/EG - insofern vergleichbar mit § 11 Abs 2 Z 3 NAG - verfolgt den Zweck, eine unangemessene Inanspruchnahme der öffentlichen Finanzen des aufnehmenden Mitgliedstaats zu vermeiden. Das ändert aber nichts daran, dass sich die jeweiligen Formulierungen ("alle Risken abdeckenden Krankenversicherungsschutz" in § 11 Abs 2 Z 3 NAG bzw "umfassenden Krankenversicherungsschutz" in § 51 Abs 1 Z 2 und § 53 Abs 2 Z 2 NAG) deutlich voneinander unterscheiden und die Rsp des VwGH zu § 11 Abs 2 Z 3 NAG schon aus diesem Grund nicht unbesehen auf die Regelungen betreffend die Dokumentation des unionsrechtlichen Aufenthaltsrechts der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen übertragen werden kann. IV. Die Europäische Kommission hat in ihrer Mitteilung zur Hilfestellung bei der Umsetzung und Anwendung der RL 2004/38/EG vom 2.7.2009, KOM(2009) 313 endgültig, zum "Krankenversicherungsschutz" die Beachtung des Verhältnismäßigkeitsprinzips als geboten erachtet und erläuternd festgehalten, dass Rentner die Anforderungen erfüllen, wenn sie nach dem Recht des Mitgliedstaats, der ihre Rente zahlt, Anspruch auf medizinische Versorgung haben. Zwar ist eine derartige Mitteilung der Kommission für die Mitgliedstaaten nicht verbindlich, sie kann aber nichtsdestotrotz als Auslegungshilfe herangezogen werden. V. Die VO (EG) 883/2004 gilt für alle Rechtsvorschriften, die näher aufgeführte Zweige der sozialen Sicherheit (darunter Leistungen bei Krankheit) betreffen. Nach ihrem Art 11 Abs 1 unterliegen Personen, für die diese Verordnung gilt, den Rechtsvorschriften nur eines Mitgliedstaats. Da der Fremde nach deutschem Recht in Rente ist, ihm dadurch - über eine private Krankenversicherung - in seinem Herkunftsland voller Krankenversicherungsschutz nach Maßgabe der gesetzlichen Krankenversicherung zukommt und er seinen Hauptwohnsitz und Lebensmittelpunkt weiterhin in Deutschland hat, unterliegt er (als wirtschaftlich nicht aktive Person) gemäß der Kollisionsnorm des Art 11 Abs 3 lit e der VO hinsichtlich des Bezugs von Leistungen im Krankheitsfall den Rechtsvorschriften Deutschlands als seinem Wohnsitzstaat. Wenn sich aber aus Art 11 der VO ergibt, dass der Fremde hinsichtlich der Leistungen im Krankheitsfall zwingend den Vorschriften des Wohnsitzstaates (konkret Deutschland) unterliegt, dann kann Art 7 Abs 1 lit b der RL 2004/38/EG und damit auch § 51 Abs 1 Z 2 NAG nicht dahingehend ausgelegt werden, dass mit einem Nachweis einer den sozialrechtlichen Vorgaben des Wohnsitzstaats genügenden Krankenversicherung kein umfassender Krankenversicherungsschutz iSd genannten Bestimmung nachgewiesen wird.
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Entscheidungsdatum: 21.06.2022
Aufbereitet am: 03.02.2023
2667
Wegfall der Zuständigkeit der Behörde infolge nachträglicher (konkludenter) Zurückziehung des ursprünglichen Antrages auf Erteilung eines Aufenthaltstitels
Leitsätze
I. Gegenstand des Beschwerdeverfahrens ist nur jene Angelegenheit, die den Inhalt des Spruchs der belangten Verwaltungsbehörde gebildet hat. II. Die (konkludente) Zurückziehung des ursprünglichen Antrages hat den Wegfall der Zuständigkeit der Behörde zur Folge.
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Entscheidungsdatum: 22.06.2022
Aufbereitet am: 02.02.2023
2666
Rechtswidrigkeit der Verhängung von Schubhaft bei Unterlassen von diesbezüglichen Ermittlungsschritten bzw Parteiengehör
Leitsätze
I. Die Verhängung von Schubhaft darf auch in Dublin-Fällen nicht zu einer "Standardmaßnahme" gegen Asylwerber werden. Der Umstand wiederholter Sekundärmigration und die mangelnde Prüfung der allfälligen Kooperationsbereitschaft des Fremden im Rahmen einer diesbezüglichen Einvernahme reichen nicht aus, um eine erhebliche Fluchtgefahr iSd Art 28 Dublin III-VO zu begründen. II. Die asylrechtliche Einvernahme verfolgt nicht den Zweck, die Notwendigkeit von Sicherungsmaßnahmen zu prüfen.
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Entscheidungsdatum: 21.06.2022
Aufbereitet am: 01.02.2023
2665
Kein Vorliegen von erheblicher Fluchtgefahr bzw Sicherungsbedarf bei grundsätzlicher Bereitschaft zur Ausreise
Leitsätze
Die fehlende Ausreisewilligkeit eines Fremden, iSd bloßen Unterbleibens der Ausreise, obwohl keine Berechtigung zum Aufenthalt besteht, rechtfertigt für sich genommen noch nicht die Verhängung von Schubhaft. Vielmehr muss der aktuelle Sicherungsbedarf in weiteren Umständen begründet sein. Zudem ist bei der Prüfung des Sicherungsbedarfs auch das bisherige Verhalten des Fremden in Betracht zu ziehen.
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Entscheidungsdatum: 23.06.2022
Aufbereitet am: 31.01.2023
2664
Verhängung einer Mutwillensstrafe aufgrund wiederholter Inanspruchnahme der Behörde in rechtsmissbräuchlicher Weise
Leitsätze
I. Die Verhängung einer Mutwillensstrafe soll einerseits die Behörde vor Behelligung, andererseits die Partei vor Verschleppung der Sache schützen. Es handelt sich nicht um die Ahndung eines Verwaltungsdeliktes, sondern um ein Mittel zur Sicherung einer befriedigenden, würdigen und rationalen Handhabung des Verwaltungsverfahrens, sohin um ein Disziplinarmittel. II. Mutwillig iSd § 35 AVG handelt, wer sich im Bewusstsein der Grund- und Aussichtslosigkeit, der Nutz- und Zwecklosigkeit seines Anbringens an die Behörde wendet, sowie wer aus Freude an der Behelligung der Behörde handelt. Der Mutwille muss offenkundig sein, sodass die Aussichtslosigkeit für jedermann erkennbar ist.
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Entscheidungsdatum: 21.06.2022
Aufbereitet am: 30.01.2023
2663
Garantien gegenüber drittstaatsangehörigen Opfern von Menschenhandel vs Dublin-System
Leitsätze
I. Gegenüber drittstaatsangehörigen Opfern von Menschenhandel darf während der ihnen gemäß Art 6 Abs 1 RL 2004/81/EG eingeräumten angemessenen Bedenkzeit (zur Erholung bzw fundierten Entscheidung über eine Kooperation mit den Behörden) gemäß Abs 2 leg cit keine "Rückführungsentscheidung" vollstreckt werden. Unter diesen Begriff fallen auch Überstellungsentscheidungen nach der Dublin III-VO (604/2013). II. Art 6 Abs 2 RL 2004/81/EG steht nur der Vollstreckung von "Rückführungsentscheidungen" während der Bedenkzeit von drittstaatsangehörigen Opfern von Menschenhandel entgegen, nicht aber auch deren Erlassung. III. Die Mitgliedstaaten dürfen während der Bedenkzeit auch Vorbereitungen zur Vollstreckung von "Rückführungsentscheidungen" iSd Art 6 Abs 2 RL 2004/81/EG treffen. Diese dürfen aber die praktische Wirksamkeit der Bedenkzeit nach Abs 1 leg cit nicht unterminieren (Tatfrage). Vor allem Inhaftierungen zu Sicherungszwecken während der Bedenkzeit sind mit dieser Kautel unvereinbar. IV. Der Lauf der grs nur sechsmonatigen Überstellungsfrist gemäß Art 29 Dublin III-VO wird durch die angemessene Bedenkzeit für Opfer von Menschenhandel (Art 6 Abs 1 RL 2004/81/EG) nicht beeinflusst. Vielmehr müssen die Mitgliedstaaten in ihrer Gesetzgebung einen angemessenen Ausgleich zwischen dem Dublinsystem und den Zielen der RL 2004/81/EG (MenschenhandelsopferRL) finden, damit Beides praktisch verwirklicht werden kann. V. Der EuGH muss nur "entscheidungserhebliche" Auslegungs- und Gültigkeitsfragen iSd Art 267 AEUV beantworten: Allgemeine oder hypothetische Fragen, deren Beantwortung auf den Ausgangsfall keinen Einfluss haben, muss der Gerichtshof nicht beantworten.
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Entscheidungsdatum: 20.10.2022
Aufbereitet am: 27.01.2023
2662
Keine Notwendigkeit zur Ausübung des Selbsteintrittsrechts im Dublin-Verfahren aufgrund der gegenwärtigen Aufnahmesituation in Polen
Leitsätze
I. Nach der Rsp der Höchstgerichte ist aus innerstaatlichen verfassungsrechtlichen Gründen das Selbsteintrittsrecht zwingend auszuüben, sofern die innerstaatliche Überprüfung der Auswirkungen einer Überstellung ergeben sollte, dass Grundrechte des betreffenden Asylwerbers bedroht wären. II. Die Angst vor einer Abschiebung im Dublin-Staat kann nicht dazu führen, dass der für das Asylverfahren zuständige Dublin-Staat frei gewählt werden kann, in welchem eine günstigere Behandlung angenommen wird. Es ist vielmehr auf den Hauptzweck der Dublin III-VO zu verweisen und eine von den individuellen Wünschen losgelöste Zuständigkeitsregelung zu treffen.
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Entscheidungsdatum: 20.07.2022
Aufbereitet am: 26.01.2023
2661
Asyl wegen patriarchalischer Zustände im Herkunftsstaat
Leitsätze
I. Dass ein verwaltungsgerichtliches Erkenntnis im Bescheidbeschwerdeverfahren von einem der Gerichtshöfe des öffentlichen Rechts kassiert worden war, macht das im zweiten Rechtsgang erkennende, selbe richterliche Organ nicht befangen iSd § 14 VwGVG iVm § 7 AVG, wenn nicht weitere Umstände hinzutreten. II. Antragsteller*innen, die in ihrem Herkunftsstaat den Wertvorstellungen der Familie durch Eheschließung ohne deren Einverständnis zuwidergehandelt haben und die deshalb Ziel privater asylrelevanter Verfolgungshandlungen sind, können sich auf den Asylgrund der Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe berufen. III. In der Türkei fehlt gegen asylrelevante Verfolgungshandlungen Privater aus Gründen der Familienehre ein effektiver staatlicher Schutz. IV. Trotzdem man vor asylrelevanten Verfolgungshandlungen Privater aus Gründen der Familienehre in anderen Provinzen der Türkei als der Herkunftsprovinz grs sicher ist, ist damit nicht stets eine innerstaatliche Fluchtalternative iSd § 11 AsylG verbunden. Scheitern kann deren Vorliegen insb an fehlenden sozialen und wirtschaftlichen Anknüpfungspunkten, der Eigenschaft als geschiedene Alleinerzieherin, der Zugehörigkeit zu einer nationalen Minderheit sowie der allgemein schwierigen wirtschaftlichen Lage.
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Entscheidungsdatum: 02.08.2022
Aufbereitet am: 25.01.2023
2660
Zum Eingehen einer Beziehung während eines unsicheren Aufenthaltsstatus
Leitsätze
I. Obwohl eine Verurteilung der fremden Person bereits getilgt wurde und die Person somit als gerichtlich unbescholten gilt, darf die Straffälligkeit im Rahmen der Interessenabwägung nach Art 8 EMRK berücksichtigt werden. II. Verbleibt die fremde Person unter beharrlicher Missachtung einer bereits rechtskräftig auferlegten Ausreiseverpflichtung jahrelang illegal in Österreich und hält sich diese mehrere Jahre unter Verletzung der Meldeverpflichtung im Verborgenen auf, so ist von einem Überwiegen der öffentlichen Interessen an einer Aufenthaltsbeendigung der fremden Person auszugehen. III. Bestehen anhaltende Bindungen zum Herkunftsstaat, weil die fremde Person dort etwa den überwiegenden Teil ihres Lebens verbracht hat, im Herkunftsstaat sozialisiert wurde, die Landessprache als Muttersprache spricht, eine Schulbildung absolviert und gearbeitet hat und auch Familienangehörige (beispielsweise die Mutter und der Onkel der fremden Person) dort leben, so führt die Rückkehrsituation regelmäßig zu keinem Überwiegen der Interessen an einem Verbleib in Österreich.
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Entscheidungsdatum: 07.07.2022
Aufbereitet am: 24.01.2023
2659
Zum Heimreisezertifikat-Verfahren und diesbezüglichen Mitwirkungspflichten der fremden Person
Leitsätze
I. Für die zur Ausreise verpflichtete Person bestehen keine parallelen Mitwirkungspflichten nach § 46 Abs 2 FPG und nach § 46 Abs 2a FPG. Wurde bereits ein Verfahren zur Erlangung eines Heimreisezertifikates nach § 46 Abs 2a FPG geführt, so hat das BFA daher bereits von seiner Ermächtigung Gebrauch gemacht und darf der fremden Person während dieses Verfahrens keinen Auftrag zur Beschaffung eines Reisedokuments aus Eigenem erteilen. II. Werden vom BFA völlig ungeeignete Ermittlungsschritte gesetzt und darüber hinaus entscheidungswesentliche Umstände gar nicht bzw nur rudimentär ermittelt, so erweist sich das Verfahren als grob mangelhaft. Sind aus dem vorgelegten Akt aufgrund der ungeeigneten Ermittlungsschritte etwa weder der Stand des Heimreisezertifikat-Verfahrens zu entnehmen noch an die fremde Person gerichtete Aufforderungen betreffend eine Mitwirkung oder die Beschaffung eines Reisedokuments aus Eigenem, so hat eine Zurückverweisung und folglich eine neuerliche Entscheidung durch das BFA zu erfolgen.
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Entscheidungsdatum: 29.07.2022
Aufbereitet am: 23.01.2023
2658
In Dänemark rechtskräftig entschiedene Asylanträge gelten nicht als "Erstanträge"
Leitsätze
I. Dänemark unterliegt dem gemeinsamen europäischen Asylsystem zufolge des primärrechtsrangigen Protokolls Nr 22 nicht. Insb ist dieser Mitgliedstaat nicht an die RL 2011/95/EU (StatusRL) und die RL 2013/32/EU (VerfahrensRL) gebunden, sieht doch das konkretisierende Abkommen zwischen der EU und Dänemark, ABl 2006 L 66/38, nur die Anwendung der Dublin III-VO (604/2013) auf Dänemark vor. II. Auf Grund der örtlichen Nicht-Geltung des genannten Richtlinienwerks (I.) sind in Dänemark gestellte Asylanträge bzw getroffene rechtskräftige Asylentscheidungen nicht als "Erstanträge" iSd Art 2 lit b RL 2013/32/EU bzw "bestandskräftige Entscheidungen" (lit e leg cit) anzusehen. III. Dies (II.) führt wiederum dazu, dass ein Asylantrag in anderen EU-Mitgliedstaaten als Dänemark nicht als "Folgeantrag" (Art 2 lit q RL 2013/32/EU) angesehen werden darf, dem ein in Dänemark geführtes Asylverfahren vorausgegangen ist. Folglich greift für diese Anträge der Unzulässigkeitstatbestand des Art 33 Abs 2 lit d RL 2013/32/EU nicht. Nationales Recht der Mitgliedstaaten der "Rest-EU", das hingegen an zuvor in Dänemark geführte Asylverfahren anknüpft und diese als Erstanträge qualifiziert, ist mit Unionsrechtswidrigkeit behaftet und weicht dem Anwendungsvorrang.
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Entscheidungsdatum: 22.09.2022
Aufbereitet am: 20.01.2023
2657
Durchführung einer Interessenabwägung vor der Ausweisung eines straffällig gewordenen Ausländers ohne ausdrückliche Bezugnahme auf die Rechtsprechung des EGMR
Leitsätze
I. Obwohl Art 8 EMRK keiner Kategorie von Fremden ein absolutes Recht gewährt, nicht ausgewiesen zu werden, kann es Umstände geben, unter denen eine Ausweisung gegen Art 8 EMRK verstößt. Die Verhältnismäßigkeit einer Ausweisung ist nach den Kriterien vorzunehmen, die vom EGMR in Boultif/CH dargelegt und in Üner/NL ergänzt wurden. II. Bei der Einschätzung der Notwendigkeit eines Eingriffs in ein durch Art 8 EMRK geschütztes Recht genießen die Mitgliedstaaten einen Ermessensspielraum. Der EGMR wird die Verhältnismäßigkeitsprüfung der nationalen Instanzen nicht durch seine eigene ersetzen, wenn unabhängige und unparteiische innerstaatliche Gerichte den Sachverhalt sorgfältig geprüft, die relevanten menschenrechtlichen Standards in Übereinstimmung mit der EMRK und der dazu ergangenen Judikatur angewendet und die persönlichen Interessen des Beschwerdeführers angemessen gegen die allgemeinen öffentlichen Interessen im konkreten Fall abgewogen haben. Wenn jedoch die innerstaatlichen Instanzen diese Interessenabwägung ohne Verweis auf die Rsp des EGMR vorgenommen haben, wird der EGMR die endgültige Entscheidung darüber treffen, ob die Ausweisung mit Art 8 EMRK vereinbar wäre. III. Wenn die innerstaatlichen Gerichte - wie im vorliegenden Fall - bei der Prüfung der Verhältnismäßigkeit der Ausweisung eines straffällig gewordenen Migranten zwar die in der Rsp des EGMR entwickelten Kriterien berücksichtigt, dabei aber nicht auf die relevanten Urteile verwiesen und darauf abgestellt haben, ob die Ausweisung eine "übermäßige Härte" darstellen würde oder ihr "sehr zwingende Gründe" entgegenstehen würden, wird der EGMR selbst eine Interessenabwägung vornehmen. IV. Bei allen Entscheidungen, die Kinder betreffen, ist deren Interessen "erhebliches Gewicht" beizumessen. Allerdings betrifft eine Ausweisungsentscheidung wegen einer Straftat zuallererst den Straftäter selbst. Im Kontext von Abschiebungen wegen einer Straftat können die Interessen der Familie durch andere Faktoren, einschließlich der Schwere der Straftat, aufgewogen werden. V. Die Ausweisung eines Fremden, der im Alter von 31 Jahren eingereist ist, 11 Jahre im Gaststaat verbrachte und davon vier Jahre lang strafbaren Aktivitäten nachging, wirtschaftlich nicht integriert ist und wegen jahrelang verübter Betrugsdelikte mit zahlreichen Opfern und hohen Schäden zu vier Jahren und acht Monaten Haft verurteilt wurde, ist nicht unverhältnismäßig, wenn seine Familie nicht akut von seiner Unterstützung abhängig ist und ihr zudem eine gemeinsame Ausreise zumutbar wäre.
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Entscheidungsdatum: 27.09.2022
Aufbereitet am: 19.01.2023
2656
Fehlende innerstaatliche Fluchtalternative bei Zugehörigkeit der Verfolger zum staatlichen Sicherheitsapparat
Leitsätze
I. Liegt eine Gefährdung teils wegen der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe und teils wegen rein krimineller Bedrohungen vor, so ist von Asylrelevanz der Verfolgung auszugehen, wenn die Verfolger einer radikalen Gruppe angehören, die nicht bereit ist, die Glaubensrichtung der betroffenen Person oder deren oppositionelle Haltung der radikalen Gruppe gegenüber zu akzeptieren, sondern vielmehr versucht, diese Person durch den Einsatz von Gewalt von ihren religiösen und politischen Ansichten abzubringen. II. Wird eine Person durch eine Gruppe verfolgt, die als Teil des Sicherheitsapparates im ganzen Heimatstaat operiert, so ist nicht vom Vorliegen einer Fluchtalternative im Heimatstaat auszugehen.
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Entscheidungsdatum: 10.06.2022
Aufbereitet am: 18.01.2023
2655
Nigerianische Opfer von Menschenhandel als Mitglieder einer sozialen Gruppe
Leitsätze
I. Damit der Verfolgungsgrund "Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe" (Art 1 Abschnitt A Z 2 GFK) erfüllt ist, müssen die Mitglieder einer Gruppe zum einen ein gemeinsames identitätsstiftendes Merkmal oder einen gemeinsamen nicht (zumutbar) veränderlichen Hintergrund haben. Zum zweiten müssen sie hiedurch eine von der Mehrheitsgesellschaft im Herkunftsstaat deutlich abgegrenzte Identität erlangen. II. Bei Opfern von Menschenhandel aus Nigeria ist – ungeachtet der Umstände des Einzelfalles – davon auszugehen, dass diese beide Merkmale des Begriffs einer "sozialen Gruppe" erfüllen (I.). III. Der VwGH war in seinem Beschluss vom 14.8.2020, Ro 2020/14/0002, anders als der VfGH in dessen Erkenntnis vom 1.7.2022, E 309/2022, davon ausgegangen, dass nigerianische Frauen, die Opfer von Menschenhandel sind, in Nigeria nicht automatisch eine abgegrenzte Identität hätten, vielmehr komme es auf den Einzelfall an. Da der VfGH dies in seinem zitierten Erkenntnis anders gesehen hat und das BVwG Letzterem gefolgt ist, ist die Revision an den VwGH zulässig (Art 133 Abs 4 B-VG).
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Entscheidungsdatum: 02.08.2022
Aufbereitet am: 17.01.2023
2654
Keine Abschiebung trotz Straffälligkeit bei langer Aufenthaltsdauer und positiver Zukunftsprognose
Leitsätze
I. Bei einem mehr als zehn Jahre dauernden Aufenthalt iVm dem Vorliegen von integrationsbegründenden Aspekten einer fremden Person im Bundesgebiet ist regelmäßig von einem Überwiegen der persönlichen Interessen an einem Verbleib in Österreich auszugehen. II. Bedauert eine verurteilte Person ihre Taten und absolviert sie eine entsprechende Therapie, so ist folglich die Gefahr der Begehung von Wiederholungstaten erheblich gemindert. In der Gesamtbetrachtung des Lebenswandels der fremden Person kann die Erstellung einer positiven Zukunftsprognose gerechtfertigt sein.
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Entscheidungsdatum: 08.06.2022
Aufbereitet am: 16.01.2023
2653
Vorübergehende Aussetzung des Familiennachzugs zu subsidiär Schutzberechtigten in Schweden
Leitsätze
I. Den Vertragsstaaten ist bei der Entscheidung über die Einführung einer Wartefrist für die Familienzusammenführung zu Personen, denen subsidiärer oder vorübergehender Schutz gewährt wurde, ein weiter Ermessensspielraum zuzugestehen. II. Zwar sieht der EGMR keinen Grund, die Logik einer zweijährigen Wartefrist für die Familienzusammenführung in Frage zu stellen, gewinnen über eine solche Dauer hinaus die unüberwindbaren Hindernisse für ein Familienleben im Herkunftsstaat fortschreitend mehr Bedeutung bei der Einschätzung des gerechten Ausgleichs. Obwohl aus Art 8 EMRK keine generelle Verpflichtung eines Staats abgeleitet werden kann, eine Familienzusammenführung in seinem Territorium zu gewähren, verlangen Ziel und Zweck der Konvention eine Auslegung und Anwendung ihrer Bestimmungen, die ihre Anforderungen in ihrer Anwendung auf den Einzelfall praktisch und effektiv machen und nicht theoretisch und illusorisch. III. Angesichts der Herausforderungen, mit denen Schweden 2015 durch die erheblich angestiegene Zahl von Asylwerber*innen konfrontiert war, war es gerechtfertigt, den Familiennachzug zu subsidiär Schutzberechtigten vorübergehend auszusetzen. Dabei ist auf die konkrete Situation der betroffenen Personen abzustellen, die keine besondere Verletzlichkeit oder Abhängigkeit geltend machten und bei denen die Wartefrist aufgrund der eintretenden Volljährigkeit de facto weniger als eineinhalb Jahre betrug. IV. Die Frage, ob sich subsidiär Schutzberechtigte in einer Situation befinden, die mit der Situation von Personen vergleichbar war, denen der "Flüchtlingsstatus" zuerkannt wurde, kann nicht abstrakt oder generell beantwortet werden. Sie ist vielmehr anhand der spezifischen Umstände und insb in Bezug auf das geltend gemachte Recht – in diesem Fall das Recht auf Familienzusammenführung – zu beurteilen. Die Frage kann aber auch hinsichtlich des Rechts auf Familienzusammenführung nicht abstrakt beantwortet werden. V. Von der Annahme ausgehend, dass sich subsidiär Schutzberechtigte und Asylberechtigte im Hinblick auf die Familienzusammenführung in einer vergleichbaren Situation befinden, erachtet der EGMR die in Schweden nur für subsidiär Schutzberechtigte eingeführte vorübergehende Aussetzung des Nachzugs als durch das öffentliche Interesse gerechtfertigt.
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Entscheidungsdatum: 20.10.2022
Aufbereitet am: 13.01.2023
2652
Art 8 EMRK und die Berücksichtigung des Kindeswohls bei der Abschiebung eines schulpflichtigen Minderjährigen
Leitsätze
I. Bei aufenthaltsbeendenden Maßnahmen betreffend Minderjährige ist das Kindeswohl besonders zu berücksichtigen. So würde etwa die Trennung von einem unbescholtenen Vater und dessen minderjährigem (und damit besonders vulnerablen) Kind eine Verletzung des Rechts auf Privat- und Familienleben nach Art 8 EMRK darstellen. II. Bei einem minderjährigen Kind ist dessen biopsychosoziales Überleben und dessen Entwicklung sicherzustellen. Dabei ist insb auf die Kontinuität sozialer Beziehungen und der Umgebung Rücksicht zu nehmen oder der Zugang zu adäquaten Bildungsmaßnahmen zu ermöglichen. Im Rahmen der Interessenabwägung ist hier auch insb zu beachten, dass jede Trennung (zB von Familienangehörigen oder anderen Bezugspersonen) für Minderjährige sehr belastend sein kann.
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Entscheidungsdatum: 31.08.2022
Aufbereitet am: 12.01.2023
2651
Zu den Voraussetzungen der (Nicht-)Aufhebung bzw (Nicht-)Verkürzung eines Einreiseverbots
Leitsätze
I. Kann die fremde Person ihrer Ausreiseverpflichtung nicht freiwillig nachkommen, da sie sich etwa in Straf- oder Schubhaft befindet, so hat die Person selbst diesen Umstand verschuldet. Folglich kann die Voraussetzung der "Freiwilligkeit" im Falle einer beantragten Verkürzung eines Einreiseverbots nach § 60 Abs 2 FPG von Vornherein nicht erfüllt werden, weshalb eine allfällige Verkürzung der Dauer des Einreiseverbots nicht möglich ist. II. Ist eine Verkürzung oder Aufhebung eines Einreiseverbots aufgrund des Nichtvorliegens der hierfür notwendigen Voraussetzungen nicht möglich, so kann bei Vorliegen zwingender Gründe des Art 8 EMRK im Wege der Antragstellung nach § 55 AsylG die Gegenstandslosigkeit des Einreiseverbots für die fremde Person erwirkt werden. III. Für die Verkürzung eines Einreiseverbots ist der Zeitraum, der nach der Ausreise im Ausland verbracht wurde, maßgeblich. Die fremde Person muss nach der fristgerechten Ausreise einen Zeitraum von mehr als der Hälfte des seinerzeitigen Einreiseverbots im Ausland verbringen. Liegt diese Voraussetzung (neben jener der freiwilligen Ausreise) nicht vor, so erübrigt sich eine inhaltliche Prüfung, ob es zu einer Änderung jener Umstände gekommen ist, die für die Erlassung des seinerzeitigen Einreiseverbots maßgeblich waren.
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Entscheidungsdatum: 07.06.2022
Aufbereitet am: 11.01.2023
2650
Gründe für die Unzulässigkeit einer Rückkehrentscheidung
Leitsätze
I. Ist nach den aktuellen Länderfeststellungen zum betreffenden Staat (hier: Pakistan) in einigen Landesteilen vom Vorfinden einer gesicherten Existenzgrundlage auszugehen, so kann die Deckung der existenziellen Grundbedürfnisse angenommen werden. Die Zumutbarkeit ist auch gegeben, wenn sich die Beschaffung der Mittel zum Lebensunterhalt schwieriger gestaltet als in einer vergleichbaren Situation in Österreich. II. Bei einem mehr als zehn Jahre andauernden Aufenthalt im Bundesgebiet und dem Erreichen einer gewissen Integration ist zu prüfen, ob und warum öffentliche Interessen ein zwingendes Verlassen des Bundesgebiets durch die fremde Person rechtfertigen würden. Bei einem mehr als zehnjährigen inländischen Aufenthalt einer fremden Person ist regelmäßig von einem Überwiegen der persönlichen Interessen an einem Verbleib in Österreich auszugehen.
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Entscheidungsdatum: 09.03.2022
Aufbereitet am: 10.01.2023